Beige – Das unisex Online-Magazin

Eine Kunstkolumne über Fäkalien auf Leinwand, eine Hymne auf das Lotterleben in Leggins, Mülltrennungsvergewisserung, Stadtflucht, Sternzeichenklischees, Lebensmittel retten, Produktvorstellungen und endlich nach Los Angeles: Thematisch mag „Beige“ mit Blick auf einschlägige Lifestyle-Blogs konventionell erscheinen. Die Themen ranken sich um Kultur, Menschen, Reisen, Design, Mode, Fair(e Produktion und Distribution), Pflege. Pflege im Sinne von Beauty, nicht gesellschaftskritisch im Sinne von Überalterung und Notstand. Doch das Online-Magazin hat sich in nur 18 Monaten mit Achtsamkeit, Affirmation und guter Laune ein treues Publikum in hoher sechsstelliger Zahl erarbeitet. Ihre Leser*innen beschreiben die beiden Modejournalistinnen Lisa Trautmann (33) und Marie-Christin Jaster (25) als „selbstkritisch, neugierig, hedonistisch (würden sie nie zugeben)“ und vor allem: „50 % weiblich, 50% männlich“.

Im Rahmen seines Trendreportings betreibt das VOCER Millennial Lab ein kontinuierliches weltweites Monitoring von innovativen Nachrichtenangeboten für junge Zielgruppen. Dabei stehen die Besonderheiten der oft als unbeständig wahrgenommenen digitalen Mediennutzung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Vordergrund: Welche konzeptionellen journalistischen Ansätze, welche Modi der Pubilkumsansprache, welche Darstellungsformen sind vor diesem Hintergrund erfolgsvorsprechend? Wie können junge Menschen für qualitativ hochwertige Berichterstattung begeistert werden? Die Reihe Millennial Medium des Monats stellt Best Practice-Beispiele aus dem In- und Ausland vor, die Antworten auf diese Frage liefern.

„Beige“ ist im September 2018 mit einem offensiv herausgekehrten „unisex“-Anspruch gestartet: Eine integrative Geschlechteransprache auf Augenhöhe sollten in der Berichterstattung ebenso selbstverständlich sein wie Diversität, so die Botschaft. Beiträge sollen Männer wie Frauen interessieren, meinen Jaster und Trautmann. Den nächsten Schritt des Feminismus versteht das Duo darin, die Männer nicht dabei zu vergessen, wenn es um relevante Themen und Fragestellungen geht: „Wir sind wir, Mensch ist Mensch“. So einvernehmlich, so überzeugend: Insbesondere junge Erwachsene sind wiederkehrende Besucher*innen der Website und ihrer lebendigen Dependance bei Instagram.

Das Kernpublikum von „Beige“ ist Mitte 20 bis Ende 40 und schätzt den selbstbewussten und stilbetonten Ansatz des Berliner Führungsduos. Die redaktionelle Linie wird strikt durch dessen persönliche Interessen bestimmt: Die 33-jährige Lisa Trautmann bewegen Potenziale von Empowerment und Diversity, die 25-jährige Marie-Christin Jaster brennt für Mode. Und immer wieder „Beige feels“: „Träumen von draußen“, „Zeit auch mal humble zu sein“, „Von Solidarität und Normalität“, „Keine Lust auf Massenhysterie“ und so fort. Ein Onlinemagazin so bunt wie der Name es kaum hätte vermuten lassen: grün, blau, orange schillert das Story-Grid auf der Website.

Der Name ist mehr Gegensatz denn Programm: Beige, die oft beschriebene „Seniorenfarbe“, unauffällig, nichtssagend, bestenfalls vornehm konnotiert, aber alles andere als frisch, überraschend. „Beige interessiert noch nicht mal Insekten!“, witzelte Trautmann einmal in einem Interview. Dieser Mut zur Ironie scheint sich zu lohnen: Als noch junges journalistisches Startup ohne langfristig entwickelte Fanbasis verzeichnet „Beige“ bereits über 80.000 monatliche Websitebesucher und 7.800 Follower bei Instagram, die sich mit nur einem veröffentlichten Beitrag pro Tag begnügen. Die Artikel setzen auf Zeitlosigkeit statt auf Aktualität. Sich auf der Website verlieren zu können, ohne sich gestrig zu fühlen, ist ein Alleinstellungsmerkmal, das Beige gern kultiviert: Herumscrollen, die Gif-verzierten Headlines durchstöbern, auf Geschichten stoßen, die trotz ihres Erscheinungsdatums Monate zurück immer noch aktuell erscheinen: „Bend it like Beckham“ im „Digitalen Zuhause“, wie Lisa Trautmann das Magazin versteht – ein digitalziniges „Coffeetable Book“ für Millennials.

Name: Beige
Sitz: Schönhauser Allee 128, 10437 Berlin
Website: beige.de
Gründung: Mai 2018
Gründerinnen: Lisa Trautmann und Marie-Christin Jaster
Teamgröße: 11
Veröffentlichte Beiträge seit Gründung: > 500
Follower (monatlich):
Facebook > 600
Instagram > 7.800
Pinterest > 51.000

(Stand: April 2020)

Millennials, da ist sich Lisa Trautmann ganz sicher, sind mittlerweile in einem Alter, dass sie mehr als nur Inhalte-Snacks verdauen wollen. Die Schlagzahl verringern, Hintergründe und Kontexte vertiefen: Das Interesse, ein Thema möglichst umfassend zu verstehen, sei groß. Schließlich wird das Leben mit der Zeit nicht unkomplizierter. Vermittelt werden solle: „Es gibt alles, jeder darf alles.“ Die Darstellungsform in Text und Bild, nur selten Video, ist fließend und plattformübergreifend, aber nicht beliebig. Marie-Christin Jaster vermisst bei Modestrecken in einschlägigen Publikumszeitschriften und ihren Online-Derivaten Zusatzinformationen, Hintergründe, Bestell- und Vergleichsmöglichkeiten. Selbiges gelte für den Reisejournalismus, meint Trautmann. Diesen Mehrwert im Nutzwert versucht Beige nachzuholen, bis hin zu funktionalen Features wie die Einbindung von Google Maps-Ausschnitten, Restaurantbewertungen, Insta-Stories, um „auf dem Handy immer alles gleich parat zu haben“. Vorbilder für diesen „Alles was geht“-Anspruch kennen die Beiden nicht. Man könne dem Leser nicht genug Service bieten, und der Versuch werde honoriert.

Formate für beiderlei Geschlechter

Nutzwert leitet Jaster und Trautmann auch bei den Kooperationen mit Werbetreibenden, derer sie drei als Meilensteine ihres Millennial-Mediums herausstellen: Da war der „Bumble-Brunch“, eine gemeinsam mit der namensgebenden Dating-App organisierte Offline-Veranstaltung, bei der gematchte Nutzer*innen beim gemeinsamen Frühstück über Freundschaft, Zusammenhalt und „die besten Tricks gegen Einsamkeit“ diskutieren konnten. Journalistisch-aktivierende Veranstaltungen seien sowohl fürs Image der eigenen Medienmarke und die Nutzerbindung gut, sind die Gründerinnen überzeugt. Eine Lücke erkennen Trautmann und Jaster in Formaten, die für beiderlei Geschlechter interessant sind. Zu häufig werde hier auf vermeintlich spezifische Interessen von Frauen oder Männer zugespitzt und zugeschnitten. Es fehlten Veranstaltungsreihen, die konkret themenbezogen zwischen den Geschlechtern vermitteln, ohne diesen Verständigungsprozess explizit in den Vordergrund zu stellen. Doch durch die Corona-Pandemie mussten erste Überlegungen, diesen Zweig weiter zu entwickeln, bereits im Keim auf die lange Bank geschoben: „Zu zweit ist es schon schwer, ein Magazin und eine Agentur zu leiten. Dann noch krasse Offline-Konzepte auf die Beine zu stellen, ist in der aktuellen Situation einfach nicht möglich. Es gibt aber Ideen, das in absehbarer Zukunft anzugehen“, sagt Marie-Christin Jaster.

Ein Spezial mit sieben Home-Stories bei diversen Berliner*innen war prägend für das junge Onlinemagazin, bei der das Make-Up-Label Catrice als Sponsor nicht nur im Hintergrund präsent war. Die Aktion blieb auch deshalb angenehm in Erinnerung, weil sich die Redaktion mit ihrem eigenen Konzept gegen die anfängliche Dominanz des Werbepartners durchsetzen konnte. „Geld auf dem Konto, Artikel-Schandflecke auf der Seite: das wollen wir nicht“, so Lisa Trautmann. Zugeständnisse von Werbepartnern an die Kreativität des „Beige“-Teams ist für die Unternehmerinnen entscheidend. „Wir arbeiten nur mit Brands, hinter denen wir auch zu 100 Prozent stehen“, sagt Marie Jaster. Viel Nutzerfeedback habe es auch zu ihrem Interview mit Friseur Joshua Coombes gegeben, der Obdachlosen kostenlos die Haare schneidet. Der Beitrag war eine bezahlte Kooperation mit einer Schuhmarke, als dessen Werbebotschafter der Mann im Fokus seine Lebenseinstellung erklären durfte.

Rückmeldungen ihrer Nutzer*innen erreichen das Führungsduo kaum noch wie anfangs über die Kommentarfunktion auf der Website, sondern überwiegend via Instagram-Kommentaren. Je persönlicher die Kritik, desto eher werden Direktnachrichten geschickt: zur Rechtfertigung von Fleischkonsum zum Beispiel. Am ausführlichsten sei das Feedback, das sie per traditionellem Leserbrief per E-Mail erreiche, sagt Lisa Trautmann. Hier sei auch zu beobachten: Je älter die Nutzer*innen im recht jungen Altersspektrum der Zielgruppe seien, desto kommunikativer, überlegter und differenzierter die Zuschriften. Auf Facebook ist „Beige“ zwar auch vertreten, ihre Performance dort ähnele aber einem „Trauerspiel“, der Lohn der redaktionell investierten Mühe sei „zum Heulen“. Eine Verwertung auf LinkedIn und YouTube werden noch entwickelt. Instagram bleibt allerdings vorerst konkurrenzlos. Lisa Trautmann wünscht sich zwar einen Freelancer jenseits der 50, schließlich gebe es aus dieser Altersgruppe zunehmendes Interesse an den Inhalten von „Beige“. Neugieriger noch ist sie allerdings auf die Einstellung von Teenagern zum Leben und das beige Themenspektrum. Sie selbst verstünde Vieles in der heutigen Social-Media-Welt kaum noch – TikTok zum Beispiel.

Für alle Lebenskonzepte offene Zielgruppe

Von ihren derzeitigen Durchschnittsnutzer*innen glauben Marie Jaster und Lisa Trautmann mittlerweile ein relativ konkretes Bild zu haben: Diese gäben gerne Geld für Kleidung und Prestige-Objekte aus, seien allen Lebenskonzepten gegenüber aufgeschlossen und offen eingestellt, informierten sich größtenteils online, seien jedoch mit Print aufgewachsen und vertraut, seien zudem viel unterwegs, sehr mobil und würden ihre Informationen informativ und humorvoll verpackt mögen, pflegten einen „normalen“ Arbeitsalltag und schwankten oft zwischen ihren Träumen und angestrebten Lebenskonzepten, wüssten oftmals selbst noch nicht genau, wohin ihre Reise gehe und würden gar denken, dass die Welt ein ziemlich verrückter und spannender Ort ist. So steht es in ihrem Media Kit für Werbetreibende: eine unter dem Eindruck des Userfeedbacks entwickelte Erwartungserwartung zweier aufstrebender Journalismus-Unternehmerinnen.

Als großes geschäftliches Vorhaben für 2020 ist auf Anzeigenkunden zugeschnittene Bannerwerbung mit eigener Programmierung und Graphik geplant. Doch von den unruhigen Turbulenzen und Ambivalenzen der Corona-Krise ist auch „Beige“ erfasst worden: „Natürlich ist es gerade für alle eine schwere Zeit, ganze Existenzen brechen ein. Wir versuchen die positiven Dinge zu sehen: Mehr Menschen haben Zeit digital zu lesen, unsere Zugriffszahlen haben sich mehr als verdoppelt, der Austausch mit den Leser*innen ist viel intensiver geworden. Der Zusammenhalt ist so stark wie noch nie“, sagt Marie-Christin Jaster. Vor der Pandemie habe es kaum einen Unterschied gemacht, wenn die Veröffentlichungsfrequenz hin und wieder etwas erhöht wurde, so Jaster. Seien durchschnittliche Nutzer*innen bislang für gewöhnlich einmal am Tag zur Website navigiert, markiere die Corona-Krise einen grundsätzlichen Wandel: „Gerade merken wir das Gegenteil: Leser wünschen sich mehr Content und mittlerweile produzieren wir an den meisten Tagen zwei Artikel am Tag, in der ersten Zeit der Quarantäne sogar sieben Tage die Woche zwei Artikel. Unsere Zugriffszahlen haben sich in den letzten zwei Monaten mehr als verdoppelt.“

Solidarität in Zeiten von Corona

Im Laufe des Frühjahrs verdoppelten sich die Seitenaufrufe auf 100.000 monatlich, die Zahl der Website-Besucher von 30.000 auf 80.000. „Wir versuchen die Corona-Krise als Chance zu nehmen, noch mehr anspruchsvollen Content an mehr Menschen zu vermitteln. Wir wollen noch mehr als sonst Unterhaltung mit Mehrwert kreieren, persönlicher werden und ablenken sowie aufklären. Beides schließt sich für uns nämlich nicht aus“, sagt Jaster. Das Dilemma eines wachsenden Publikumsinteresses in der Krise und gleichzeitig ausbleibender Werbeaufträge versucht das Team konstruktiv für sich zu wenden: Die Redaktion verschenkt unter dem Motto #BeigeSupportPackage Advertorials an Unternehmen aus den Bereichen Kunst, Kultur und Lifestyle. Die Firmen werden gezielt ausgesucht, nachdem sie sich über den Instagram-Account von „Beige“ beworben haben. Bei den Lesern kommt der transparente Umgang mit der Solidarität für die lokale Wirtschaft offenbar an: Die Beiträge werden geklickt, das Publikumsfeedback ist ausgesprochen positiv. Kriterien für die Auswahl eines Unternehmens seien neben seiner Betroffenheit von der Krise die Nachhaltigkeit der Geschäftsziele, die Größe und die Philosophie der Firma. Bis Ende April wurden 18 Labels auf der Website und 40 Labels im redaktionellen Newsletter vorgestellt. Die Gradwanderung geht auch finanziell auf: Kürzlich wurde eine große Getränkemarke auf die Aktion aufmerksam und stieg als Sponsor ein.

Mehr Trendreport vom VOCER Millennial Lab:

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JIM-Studie 2019: Der Informationshunger der YouTube-Aficionados

Durch die Gesellschaft verläuft ein tiefer demographischer Bruch, zumal mit Blick auf den Nachrichtenkonsum: Während sich junge Mediennutzer*innen permanent rasch in pionierhaftem und intensivem Drang dem Internet und dessen vielgestaltigen, multifunktionellen und nicht selten grellen, verspielten Diensten zuwenden, verändern sich die Mediennutzungsgewohnheiten der Älteren langsamer. Auch sie entdecken innovative Medienangebote für sich, aber deutlich später, zum Teil um Jahre verzögert.

Der digitale Medienwandel verläuft mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Das Aufwachsen unter den Vorzeichen einer digitalen Medienumgebung unterscheidet sich in vielen Merkmalen grundlegend von der Sozialisation in der analog geprägten Medienwelt der 1980er, 1990er und frühen 2000er Jahre. Lang gepflegte Gewohnheiten ändern sich nur schleppend. Die daraus resultierenden demographischen Umwälzungen in der Mediennutzung stellen Verlagshäuser vor tiefgreifende Probleme: Während die Jüngeren ihnen Flexibilität, Kreativität und Experimentiergeist abverlangen, um in der dynamischen Medienumgebung überhaupt noch wahrgenommen zu werden, möchten sich Ältere weiterhin auf ein konstantes, kohärentes Produkt und eine vertraute Ansprache verlassen können.

Das Logo des VOCER Millennial Labs

Beim Trendreporting des VOCER Millennial Labs recherchieren und analysieren wir den Markt der Medienangebote, die sich an Millennials richten, fassen relevante Studien zusammen und geben internationale Einblicke in den Journalismus für neue Zielgruppen. In diesem Beitrag beleuchten wir die relevanten Ergebnisse der repräsentativen Langzeitstudie „Jugend, Information, Multimedia.“

Zeigt sich der demographische Bruch in der Mediennutzung besonders eindrücklich im Vergleich von Jugendlichen und Senior*innen, ist gerade der Blick auf jüngere Generationenunterschiede lohnend: Was können Journalist*innen und Nachrichtenanbieter davon lernen, wie der Blick von Jugendlichen auf das Medienangebot der Gegenwart im Vergleich zu jungen Erwachsenen abweicht? Um die divergenten Muster (nicht ausschließlich) in der Mediennutzung besser herausarbeiten zu können, hat sich das US-amerikanische PEW Research Center schon seit einigen Jahren entschieden, die Folgegeneration der Millennials klar zu definieren: Die „Generation Z“ wird von dem sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut nun mit den Jahrgangskohorten der von 1997 bis 2012 Geborenen beschrieben, wohlwissentlich dass es sich bei der Festlegung von Geburtsjahrgängen immer nur um eine Annäherung an die ohnehin starke Heterogenität von Menschen in ihren kommunikativen Figurationen und sozialen Milieus handeln kann.

Wenn schon die jungen Erwachsenen der Jahrgänge 1981 bis 1996 mit ihrem veränderten Mediennutzungsverhalten die journalistische Praxis und die Wertschöpfung der Nachrichtenindustrie vor immense Herausforderung stellen: Wie kann sich der Journalismus in den Medienrepertoires der Kinder der Generation X (1965-1980) behaupten? Die häufig als GenZ beschriebene Altersgruppe kennt keine Medienwelt ohne Smartphones, Social Networks, Entertainment-Streaming und scheinbar unerschöpflichen Abrufangeboten im Netz. Seit 1998 untersucht die repräsentative Langzeitstudie „Jugend, Information, Multimedia“ des Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest aus Stuttgart jährlich die mediale Geräteausstattung und das Medienhandeln von Jugendlichen in Deutschland. In ihrer 23. Erhebung für das Jahr 2019 finden sich einige aufschlussreiche Ergebnisse, die darauf hinweisen, wie der Journalismus seinen Auftrag, seine Formen und Vertriebswege verknüpfen muss, um die jüngste Generation nachhaltig zu erreichen.

Die JIM-Studie 2019 kommt zu folgenden Ergebnissen:

  • Neun von zehn Jugendlichen ist täglich online, im Schnitt etwa dreieinhalb Stunden. Bedeutsam ist hierbei nicht allein der Gerätebesitz von Jugendlichen, sondern die Ausstattung mit Medientechnik im familiären Haushalt: Dieser ist in weitem Umfang durch eine große Vielfalt an unterschiedlichen Empfangs-, Abspiel- und Assistenzgeräten geprägt. Smartphones und Computer/Laptops sind ebenso wie WLAN-Technologie allgegenwärtig. Auch Fernseher und Radiogeräte behaupten sich wie auch klassische Abspieltechnik (DVD-Player/Festplattenrecorder). Abonnements für Video- oder Musik-Streaming sind in mehr als zwei Dritteln der Haushalte vorhanden. Tablet-PCs gibt es bei 63 Prozent, Spielekonsolen bei 60 Prozent der Familien. Wearables (31 Prozent) und digitale Sprachassistenten (16 Prozent) sind ebenfalls im Kommen. Schon acht Prozent der Jugendlichen nennt letztgenanntes Gerät bereits ihr Eigen. Der Primat des Smartphones als wichtigstes Gadget unter Jugendlichen ist mit 93 Prozent allerdings ungebrochen.
  • Manche mag es überraschen, andere beruhigen: Die Kulturtechnik des Lesens ist speziell für Jugendliche in unserer tiefgreifend mediatisierten Ära nicht zwingend eine lästige Pflicht. Sie lesen häufig, nicht nur im Rahmen des Schulunterrichts, sondern auch in ihrer Freizeit – ob gedruckte Bücher, Zeitschriften oder auch Zeitungen, aber vor allem Online-Informationen. eBooks dagegen sind nicht sonderlich beliebt. Im Schnitt gibt sogar nur weniger als jede*r Fünfte an, nie ein Buch freiwillig in die Hand zu nehmen. Mehr als ein Drittel lesen mehrmals pro Woche zum Vergnügen ein klassisches Buch.
  • Gelesen wird auch häufig und engagiert beim wechselseitigen Austausch mit der Peergroup: Direktkommunikation bleibt die für Jugendliche wichtigste Medienbeschäftigung im Internet. Im Schnitt mehr als eine Stunde täglich verbringen Jugendliche damit. Seit Jahren führt hier WhatsApp das Feld an und prägt als beliebteste Messaging-Anwendung den Austausch unter Jugendlichen – 93 Prozent innen nutzen den Dienst, unter den 16- bis 17-Jährigen sogar 98 Prozent. Die Bedeutung, sich mittels Webanwendungen mit Sozialkontakten auszutauschen, ist über im vergangenen Jahrzehnt zwar von 47 auf nur noch 33 Prozent zurückgegangen. Davon profitierte allerdings nicht das Informationsverhalten, das von 14 auf nur noch 10 Prozent sank. Vielmehr verbringen Jugendliche heute mehr Zeit mit Online-Spielen (Anstieg von 18 auf 26 Prozent) und Unterhaltungsangeboten im Netz (22 auf 30 Prozent).
  • Gespielt wird immer länger und intensiver: Die Bedeutung von Computerspielen und speziell Online-Games ist weiter gestiegen. Maßgebliche Antriebskraft ist hierbei der Vergemeinschaftungscharakter von Netzwerkspielen – vorne in der Gunst der Jugendlichen liegen aus den Vorjahren bekannte Dauerbrenner wie „Fortnite“, „Minecraft“ und „FIFA“. Der Bildungsgrad spielt dabei kaum einen Unterschied: Die Mehrheit der Haupt- und Realschüler (67 Prozent) bzw. Gymnasiasten (60 Prozent) spielt täglich oder mehrmals die Woche Computer-, Konsolen-, Tablet- oder Smartphone-Games. Etwa 13 Prozent der Jugendlichen nutzt nach eigenen Angaben nie digitale Spiele.
  • Die Lieblings-Internetanwendungen der Jugendlichen bleiben YouTube (63 Prozent), WhatsApp (39 Prozent) und Instagram(35 Prozent). Instagram legt hier mit 5 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr am deutlichsten zu. Facebook verliert weiter an Zuspruch: Nur noch verschwindend geringe vier Prozent nennen das Social Network als ihren Favoriten. Auch Spotify verliert etwas. In der tatsächlichen Nutzung zeigt sich ein ähnliches Bild – mit einem Senkrechtstarter: Zwar behaupten WhatsApp, Instagram, auch Snapchat im Bereich Kommunikation mit leichten Abstrichen ihre Führungsrollen, doch mit TikTok taucht erstmals eine Plattform auf, die von etwa jedem siebten Jugendlichen und von sogar etwa jedem fünften Mädchen regelmäßig genutzt wird. Besonders häufig sind hier die Unter-16-Jährigen aktiv (21-22 Prozent). Im Bereich der Bewegtbildangebote führt weiterhin YouTube vor Netflix, Amazon Prime und den Mediatheken der klassischen Fernsehsender: 90 Prozent der Jugendlichen nutzen das breit gefächerte Video-Angebot von Googles Video-Plattform – hauptsächlich Musikvideos und lustige Clips, fremdsprachige Videos oder Videos von Influencern/Creators. Bei Jungen sind Let’s-Play-Videos sehr beliebt, bei Mädchen Mode- und Beauty-Videos. Dagegen produzieren verschwindend wenige Jugendliche eigene Inhalte, um sie auf YouTube zu veröffentlichen.
  • Bei der Suche nach Informationen werden zwar auch Videos auf YouTube angeschaut (im Mittel von ca. 55 Prozent der Befragten), die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen konsultiert aber weiterhin Suchmaschinen wie Google (87 Prozent, keine Veränderung zum Vorjahr). Wikipedia war und ist für ein Drittel der 12- bis 19-Jährigen eine regelmäßige Quelle für Informationen. Klassische Nachrichtenangebote von Verlagshäusern oder solche, die über Facebook und Twitter verbreitet werden, büßen geringfügig an Relevanz ein, nur E-Mail-Anbieter steigerten sich etwas und erreichen mit ihren Nachrichtenangeboten etwa jeden elften Jugendlichen täglich oder mehrmals in der Woche. Hier sind es vor allem die Älteren und die Gymnasiasten, die überdurchschnittlich häufig traditionelle Nachrichtenquellen im Internet ansteuern. Bei den 18- bis 19-Jährigen zeigt sich der Informationsbedarf ohnehin am stärksten: Auch Suchmaschinen (92 Prozent) und Wikipedia (43 Prozent) werden regelmäßig frequentiert. YouTube ist besonders bei den 16- bis 17-Jährigen beliebt: mehr als zwei Drittel schauten sich dort in 2019 Videos an, um sich über Themen zu informieren.
  • Auch wenn für 13 Prozent der Jugendlichen in ihrem familiären Umfeld die gedruckte Tageszeitung immer noch eine Rolle spielt (im Vergleich zu 21 Prozent im Vorjahr) und Bestandteil ihrer Nachrichtenversorgung ist, gehört es im Mittel für 42 Prozent zum Alltag, Nachrichten per Smartphone-App zu empfangen (Jungen neigen etwas häufiger dazu als Mädchen). Bei den 16- bis 19-Jährigen trifft dies auf etwa jede*n Zweite*n zu, bei den 12- bis 13-Jährigen auf etwa jede*n Vierte*n. Als Mittel der Alltagsorganisation sind den ältesten befragten Jugendlichen nur Navigations-Apps wichtiger. Bei den Unter-18-Jährigen übertrumpfen auch Fahrplan-Apps und die vorgeschriebene App ihrer jeweiligen Schule den Nutzwert einer Nachrichten-App.
  • Die aktuelle Erhebung der JIM-Studie fragt auch nach Konfrontation von Jugendlichen mit Hass und Fake News. Hierbei wurde ein Fokus auf Formen von Hassrede wie konkrete Hassbotschaften, extreme politische Ansichten, beleidigende Kommentare sowie sogenannte „Fake News“ gelegt. Eine nähere begriffliche Bestimmung von „Fake News“ findet sich in der Studie nicht. Dabei handelt es sich nicht etwa um Fehler in der journalistischen Berichterstattung, sondern um die gezielte Verbreitung falscher, erfundener oder irreführender Informationen. Dabei können Fakten auch bewusst aus dem Zusammenhang gerissen oder falsch interpretiert werden, um Menschen zu manipulieren. Mehr als zwei Drittel der Jugendlichen geben an, im vergangenen Monat mit Hassbotschaften online in Berührung gekommen zu sein. 57 Prozent waren mit extremen politischen Ansichten konfrontiert, 47 Prozent mit beleidigenden Kommentaren und 53 Prozent mit Fake News. Nur ein knappes Fünftel blieb nach eigenen Angaben von diesen problematischen Online-Inhalten unbehelligt.

Fazit

  • Jugendliche informieren sich aktiv und regelmäßig, verlassen sich dabei aber hauptsächlich auf ihre eigenen Suchstrategien und die Algorithmen von Suchmaschinenbetreibern. Die Bindung zu Online-Nachrichtenmarken ist gering, lieber wird mittels eingegebener Suchbegriffe bei Google, YouTube oder Wikipedia recherchiert. Der Informationshunger wird damit seltener mit aktuellen Nachrichten, sondern üblicherweise mit einem breiten Spektrum an Quellen gestillt, deren Verlässlichkeit für die jungen Nutzer*innen nicht selten im Unklaren bleibt.
  • Jugendliche der Jetztzeit werden wie jeher stark durch das familiäre Umfeld geprägt. Sie kennen die dominanten Mediengattungen der Vergangenheit wie das Fernsehen und seine linearen Programme oder Zeitungen und nutzen sie – gemeinsam mit ihren Eltern und Großeltern. Auch die kulturelle Bedeutung dieser alten Medien und ihrer publizistischen Flaggschiffe ist ihnen als überlieferte Zuschreibung präsent, spielt aber in der inhaltlichen Orientierung ihres selbstbestimmten Medienhandelns keine herausragende, sondern eine entsprechend tradierte und eher begleitende Rolle. Ihre Werte und (para-)sozialen Beziehungen pflegen sie auf anderen Online-Plattformen, in einer Welt, in die sie als Kinder mit iPhone, Facebook, Instagram, WhatsApp und Snapchat hineingewachsen sind. Während Millennials als Teenager noch mit den Erfahrungsschablonen des Analogen die erste Phase der Digitalisierung bewältigen und sich mit der neuen Online-Welt arrangieren mussten, ist für die Generation Z nichts Neues oder Befremdliches mehr am Digitalen. Sie begegnen im Gegenteil den Produkten der vordigitalen Ära mit Distanz.
  • Nie stand einer Generation eine größere Vielfalt und Vielzahl an technischen und inhaltlichen Medienangeboten zur Verfügung. Und nie wandelte sich die Zahl der Medienangebote schneller als heute. Diese volatile Transformation der digitalen Medienumgebung fordert Jugendlichen heutzutage – anders als der vorangehenden Generation der Millennials – keine Anpassungsversuche ab: Sie unterhalten und informieren sich wie selbstverständlich mit permanent gescrollten Bild-, Video-, Text-Inhalten in einem dynamischen Multi-App-Arrangement.
  • Als Superlativ, glaubt man dem Social Buzz der Medienbranche, in der Umwerbung von Jugendlichen mit zeitgemäßen Medientrends erscheint TikTok, ehemals Musical.ly, die zurzeit am schnellsten wachsende Social Network App der Welt. Nach den Ergebnissen der JIM-Studie ist TikTok jedoch dezidiert nicht die neue Lieblings-App unter den Jugendlichen, das machen die Autor*innen der Studie klar: Nur vereinzelt sei die App als liebstes Angebot genannt worden und spiele bei dieser Fragestellung keine Rolle. Selbst Twitter rangiert demgemäß mit 2 Prozent noch vor der chinesischen Playback-Performance-Plattform. Allerdings weisen die Wachstumszahlen des vergangenen Jahres insbesondere bei Mädchen unter 16 Jahren (21-22 Prozent) darauf hin, dass TikTok de facto eine steigende Relevanz in der regelmäßigen Nutzung erhält. Die damit verbundene Mischung aus Musik, Choreographie, Imitation und performative Interaktion ergänzt die von anderen sozialen Plattformen geprägten Kommunikations- und Darstellungsformen und wird bei der Adressierung von Jugendlichen zumindest mittelfristig eine ernstzunehmende Rolle spielen. Nachrichtenmedien haben den problematischen Umgang des chinesischen Betreibers mit Datenschutz und Zensur kritisch aufzugreifen. Gleichzeitig experimentieren nicht nur Jugendradios wie „1Live“ oder „Das Ding“ mit TikTok, sondern auch etablierte Nachrichtenmarken wie die „Tagesschau“ oder „Washington Post“ entwickeln ganz eigene Formen, ihre Marke und Themen auf TikTok zu platzieren.
  • Während Facebook die Online-Kommunikation und die Sharing-Kultur der Millennials revolutioniert hat und in jüngeren Jahren nach und nach vermehrt auch das Medienhandeln älterer Generationen prägte, können heutige Jugendliche der Plattform kaum noch etwas abgewinnen und bevorzugen eine klare Trennung von Messaging und die Veröffentlichung persönlicher Erlebnisse: WhatsApp und Instagram sind für das Kommunikationsverhalten der GenZ bislang alternativlos. Auch für die Nutzung unterhaltender Inhalte werden sie immer wichtiger, indem die beiden ebenfalls zum Facebook-Konzern gehörenden Plattformen in Kombination effizient Text- und Bildkommunikation verbinden – wohingegen Sprachfeatures (Voice Messaging oder Instagram-Videos) nur selten genutzt werden.
  • Dabei erscheint die konkurrenzlose Führungsposition des (kostenlosen) Angebots von YouTube als beliebteste Internetanwendung als Ausdruck eines bedingungslosen Pragmatismus: Hier vereinen sich Musik- und Videonutzung auf einer Plattform. Für heute 12- bis 19-Jährige ist sie der natürliche und einfachste Zugang zu Musikvideos, Sendungen, Serien und Filmen genauso wie zu Tutorials und Erklärvideos, nutzergenerierten Inhalten und lustiger Unterhaltung. Das wird auch dadurch deutlich, dass YouTube von Jugendlichen am häufigsten mobil über das Smartphone genutzt wird: Über Präferenzen entscheiden die Inhalte und der niedrigschwellige Zugang, weniger indes die Loyalität zu einer Medien- bzw. Sendermarke. Dass es bei der ungebrochenen Beliebtheit von YouTube weder bei jüngeren und älteren Jugendlichen noch zwischen den Bildungsgraden nennenswerte Unterschiede gibt, macht dies umso deutlicher.
  • Hass, Beleidigungen und Mobbing gehören für Jugendliche zum traurigen Medienalltag. So präsent sich hassbezogene Kommunikation in den Online-Erfahrungswelten von Jugendlichen manifestiert, so stark werden sie von der Bewältigung kommunikativen Stresses vereinnahmt. Der Orientierungsbedarf ist entsprechend groß, Abschreckung- und Abstumpfungseffekte angesichts einer verrohten Kommunikationskultur im Social Web sind zu befürchten. Journalismus kann hier lösungsorientiert Auswege ebnen und moderierend seine Rolle als Aufklärungsinstanz und Orientierungsgeber Das muss nicht belehrend, aber vertrauenswürdig, verständnisvoll und dialogoffen geschehen – was umso schwieriger erscheint, da das Vertrauen der jüngsten Mediengeneration erst gewonnen werden muss.
  • Gerade in Krisenlagen wie der aktuellen Corona-Pandemie werden Fakten in den sozialen Medien interessensgeleitet aus dem Kontext gerissen oder falsch interpretiert, um Menschen zu manipulieren. Solche „Fakes“ werden dann über WhatsApp, Facebook, Instagram oder andere Plattformen rasant verbreitet, unter anderem weil die Postings auf den Nährboden bestehender Ängste treffen und die weiter schüren können. Das ist besonders in Krisenlagen brandgefährlich, weil hier auch eine Vielzahl junger Menschen nach Orientierung sucht. Bei einer repräsentativen altersübergreifenden Bürgerbefragung im Auftrag der Europäischen Kommission sah 2018 in Deutschland etwa jeder Vierte Journalisten in der Verantwortung, die Verbreitung von „Fake News“ zu verhindern. Dabei haben diese nichts mit Journalismus zu tun. Natürlich aber können und sollten sich auch Journalisten einbringen, um konstruktiv und transparent über ihre Arbeit aufzuklären – schon aus eigenem Interesse, um sich von manipulierenden Inhalten abzugrenzen. Dafür braucht es neue kreative Ansätze, da die Wahrnehmung journalistischer Inhalte insbesondere von einem jungen Publikum nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann. Jugendliche fehlt in der Regel die nötige Quellensensibilität, um Nachrichten als solche zweifelsfrei zu erkennen. Auch können oder wollen sie sich Medieninhalten meist nicht mit kritisch geschultem Blick nähern. Ein wichtiger und grundlegender Schritt wäre eine systematische Förderung von Nachrichtenkompetenz als Teil der Medienkompetenz in der Bevölkerung. Das beginnt damit, journalistische Inhalte überhaupt erst im Überangebot von Inhalten im sozialen Netz auf verschiedenen Plattformen zu erkennen, sie voneinander unterscheiden zu können, ihre Qualität und Glaubwürdigkeit einzustufen und überlegt auszuwählen als Grundlage für eine reflektierte Haltung zu der wachsenden Vielzahl an Informationen im Social Web. Das VOCER Millennial Lab bringt hierfür Journalist*innen mit jungen Mediennutzer*innen zusammen, um gemeinsam an attraktiven Formaten für hochwertige Berichterstattung zu arbeiten, mit deren Hilfe junge Menschen für Journalismus begeistert werden können.

mpfs (2020): JIM-Studie 2019. Jugend, Information, Multimedia. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger (Download)

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