ForTeeNews – „Positive FAST NEWS, made by and for YOUTH”

Snackable Content: Joe Biden als “pal” von Kamala Harris – swipe – die USS Voyager (aus Star Trek) als mikroskopischster 3D-Druck der Welt – swipe – Sponge Bob als Netflix-Premiere (wegen der Kino-Schließungen). Tags darauf: Putin – swipe – Rudy Giulianis Pressekonferenz neben einem Sexshop – swipe – Schlangengift als Medikament – swipe – ein Martial Arts-Weltrekord – swipe – Hyperloop. Zwischendurch der neuerliche Chart-Erfolg eines früheren Miley Cyrus-Hits (Recycling im US-Wahlkampf) – swipe – Corona – swipe – die neue Xbox. „ForTeeNews“ macht keinen Hehl aus seiner bunten Mischung aus Politik und Popkultur. Das Nachrichtenangebot von Teenagern für Teenager im Alter von 13 bis 18 Jahren bedient die Instagramklaviatur mit quirliger Leichtigkeit und ist bemüht, die großen Nachrichtenthemen dieser Zeit knapp, aber konzise für ein jugendliches Publikum aufzubereiten.

Im Rahmen seines Trendreportings betreibt das VOCER Millennial Lab ein kontinuierliches weltweites Monitoring von innovativen Nachrichtenangeboten für junge Zielgruppen. Die Reihe Millennial Medium des Monats stellt Best Practice-Beispiele aus dem In- und Ausland vor. Diesmal: ForTeeNews.

„ForTeeNews“ ist das Projekt des 18-Jährigen Franzosen Pierre Caulliez. Im Krisen-Jahr 2020 begann er ein betriebswirtschaftliches Bachelorstudium an einer internationalen Business School am Standort London und sammelte nur wenige Montage nach Gründung seines Nachrichtenstartups 50.000 Euro beim Hamburger next media accelerator ein. Zu seinem internationalen Team gehört die rumänische Journalismusstudentin Adelina Lambreva als Content-Chefin und der Grafikdesigner Hans Kouagoué von der Elfenbeinküste, der für den farbenfrohen Editorial Rebrush des Kanals verantwortlich zeichnet. Darüber hinaus baute Caulliez innerhalb von zwei Monaten ein Netzwerk auf ca. 150 jugendlichen Content-Creators auf, indem er täglich Kommentare zu Videos postete, die ihm kompatibel zur eigenen redaktionellen Zielrichtung erschienen.

Regelmäßig werden Zuschriften, Hinweise und Newshighlights von jugendlichen Nutzer*innen per Direktnachricht eingesandt und als „subscriber‘s news“ aufgegriffen. Im Fokus stehen Reaktionen auf den Irrsinn so mancher weltpolitischen Entwicklung, aber immer auch konstruktive Perspektiven auf das Weltgeschehen: Da berichtet Simon aus Großbritannien begeistert über die Wahl der ersten Transgender-Senatorin in den USA, Tom aus Australien über die Entdeckung eines Korallenriffs so groß wie das Empire State Building oder Attar aus dem Libanon über eine Künstlerin, die aus Trümmerteilen der Explosion im Hafen Beiruts eine Statue aus Glas und Stein formte, um Zuversicht zu vermitteln. Das Teenager-Netzwerk soll auch dabei helfen, weltweit Mitstreiter*innen und nicht zuletzt zusätzliche Mittel einzuwerben, um das Konzept von ForTeeNews in unterschiedlichen Regionen und Sprachräumen zu verbreiten.

Name: ForTeeNews
Unternehmen: Forteen Limited
Sitz: Flat 113 Dryden Building, 37 Commercial Road, England, London, E1 1LF, Großbritannien
Website: forteenews.com
Gründung: April 2020
Gründer: Pierre Maurice Caulliez
Teamgröße: 3
Veröffentlichte Beiträge seit Start: ca. 230
Follower: Instagram >2.100

(Stand: September 2020)

Mit knapp mehr als 2.000 Abonnenten aus über 50 Ländern steht „ForTeeNews“ als englischsprachiges Angebot noch am Anfang eines Prozesses, die globale Generation Z in ihrer starken Heterogenität und unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten zu erreichen. Pierre Caulliez sieht in seinen Altersgenossen eine „internationale Generation“, für die Sprach- und Landesgrenzen keine bedeutenden Kategorien sind. Nichtsdestotrotz erkennt er in der Mediennutzung auch sprachliche Hürden und Vorlieben. Für die spanischsprechende Weltbevölkerung wird deshalb bereits ein eigenes Nachrichtengebot unter dem Namen „La Red Zeta“ entwickelt.

Pierre Caulliez

Die Ambitionen des gerade volljährig gewordenen Medienunternehmers sind von einer klaren Absage an die alte Nachrichtenwelt geprägt: Traditionelle Medien seien nicht imstande, die aktuelle Teenager-Kohorte zu erreichen, glaubt er, weil klassische Nachrichtenanbieter immer noch hauptsächlich auf die falschen Distributionswege und Darstellungsformen setzten und zu wenig Interaktion böten. Gleichzeitig glaubt Caulliez nicht daran, dass seine Generation nur Zerstreuung und Unterhaltung suche, im Gegenteil: Heranwachsende seien zukünftige Erwachsene, hätten Ambitionen und Interessen und bräuchten eine Anlaufstelle für glaubwürdige Nachrichten. Allerdings müsse sich diese möglichst nahtlos in ihr gewohntes Medienhandeln einfügen: In den meisten Regionen der Welt liegt Instagram in der Popularität der profilbasierten Social-Media-Plattformen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf dem vordersten Platz, insbesondere was die Informationsnutzung anbelangt.

Die täglichen Zusammenfassungen der für Teenager zusammengestellten Nachrichtenlage, geschrieben und redigiert von Adelina Lambreva, Journalismus-Erstsemesterin an der Universität von Lille, sollen mit bis zu 50 Worten und einer optimistischen Perspektive in nicht mehr als zehn Bild-/Text-Kacheln – auch beiläufig genutzt – zum Verstehen der Nachrichtenlage beitragen – „in a fun way“, so das Motto des Angebots. Schwarzmalerei passt hier nicht ins Bild, sondern vielmehr die Suche nach Auswegen, Mutmachendem und nach inspirierenden Lösungen. Gerade hat Caulliez eine Kooperationskampagne an weiterführenden Schulen in Frankreich gestartet, um Jugendliche zu animieren, sich regelmäßiger mit dem Nachrichtengeschehen auseinanderzusetzen und sich selbst mit Themenvorschlägen zu beteiligen.

Adelina Lambreva

Mindestens ebenso wichtig wie die richtige Prise Information ist aus Sicht von Pierre Caulliez die authentische Ansprache des jungen Publikums und kontinuierliche Interaktion. Wenn Teenager ihresgleichen mit Nachrichten versorgen, sind unterschiedliche Fallhöhen zwischen Medium und Publikum oder gar der Verdacht von Bevormundung kein Thema. Caulliez sieht traditionelle Medienangebote aber vor allem deshalb im Hintertreffen, weil sie die Social-Media-Prinzipien meist nur nachgelagert und nicht prioritär in ihre redaktionellen Prozesse einbinden. Dialog und direkte sowie schnelle Erreichbarkeit ist in der total vernetzten Kommunikationssphäre zum Goldstandard geworden und gilt – folgt man der Sicht des Startup-Gründers – erst recht für Nachrichtenanbieter: „Partizipation ist eine der essentiellen Punkte für „ForTeeNews“: Jede*r Abonennt*in kann ihre News aus ihrem Land beitragen. Jeden Tag veröffentlichen wir eine solche Meldung. Die Nutzer*innen brauchen mir nur eine DM schicken, die nicht länger als 50 Worte umfasst – und ein Bild, wenn sie wollen – mit ihrem Namen und ihrem Land. Nachdem wir die Quelle überprüft haben, veröffentlichen wir den Beitrag.“ Instant gratification für junge Leute, die ihre Stimme gehört wissen wollen.

Interaktion findet auch in täglichen Debatten statt, die am Tagesthema orientiert: Die Antworten der Kommentator*innen auf die tägliche Frage der Redaktion gibt es am folgenden Tag als separaten Slide – vielstimmig und unredigiert als Screenshot. „ForTeeNews“ setzt auf die jugendlichen Interessen und Weltwahrnehmung seiner Beiträger und beobachtet den täglichen Nachrichtenumschlag auf Google News mittels eines einfachen Tools, das den Aggregator übersichtlich nach festgelegten Stichworten durchforstet. Die Liste umfasst derzeit ca. 100 Keywords: von Disney und Games of Thrones über WWF und Jungle bis hin zu Jeff Bezos, Boris Johnson und Angela Merkel. „Die Liste ist das Ergebnis eines großen Brainstormings, bei dem wir zusammensaßen und unsere Umgebung genau beobachtet haben“, sagt Caulliez. Der Interessensfokus oszilliert zwischen Kinderzimmerkosmos und der weltpolitischen Bühne. Wie sehr ihm Politikvermittlung am Herzen liegt, zeigte der BWL-Student schon vor seiner Firmengründung bei einem Video-Wettbewerb eines Anbieters von Sprachtrainings: Pierre sprach in seinem Video über Gefahren der Datafizierung, Cyber-Mobbing und ökologische Risiken des hohen Stromverbrauchs der Internetnutzung und gewann eine Reise zu den Vereinten Nationen nach New York.

Erlöse sollen bei stärkerem Follower-Wachstum aus Werbekooperationen mit globalen Marken erwirtschaftet werden. Pierre Caulliez rechnet damit, dass zukünftig nur etwa fünf Prozent der Nutzer*innen auf einen nationalen Markt entfallen werden und damit die Diversität des internationalen Publikums seines Angebotes ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal bleiben wird. Das Investment des Hamburger next media accelerators um die Managing Partner Nico Lumma, Christoph Hüning und Meinolf Ellers fließt zu einem Viertel in die Inhalteproduktion, zu einem weiteren Viertel in die technische Ausstattung und zur Hälfte in Kommunikation und Marketing. Mittels der Zusammenarbeit mit Influencern und Werbeschaltungen auf einschlägigen Social-Media-Plattformen möchte Pierre Caulliez Teenager rund um den Globus für sein Nachrichtenangebot interessieren.

Besonders profitiere das Team aber von dem Austausch mit anderen Startups im „Batch“ Nummer 11 und darüber hinaus. Accelerator-Programme sollen für eine Beschleunigung der Geschäftsmodellentwicklung von jungen Unternehmen sorgen. In Kohorten durchlaufen Startups gemeinsam ein mehrstufiges Mentorenprogramm, das ihnen zugeschnittene, anwendungsorientierte Einschätzungen und Ratschläge von Experten vermittelt und das Ziel hat, die jeweiligen Angebote der Startups zu verbessern und ihr Marktpotenzial zu steigern. Das Coaching des Akzelerators habe ihm vor allem verdeutlicht, dass er seine Geschäftsstrategie systematisch nach und nach ausrollen sollte – ein Schritt nach dem anderen – „dabei war ich bislang nicht der Step-by-Step-Typ“, sagt Caulliez.

Ehrgeizig hat das junge Team bereits zahlreiche Verticals projektiert: neben klassischen Domänen wie „ForTeenMusic“, „ForTeenSport“ oder „ForTeenPimp“ (Beauty) auch querliegende Themen wie „ForTeenShow“, „ForTeenCars“ oder „ForTeenSpace“. Ein Ziel: durch Diversifizierung die Millionenmarke zu reißen. Dazu beitragen sollen auch weitere populäre Social-Media-Plattformen: Eigene Kanäle für Snapchat und TikTok sind in der Entwicklung und sollen im Laufe des Jahres 2021 starten, gefolgt von YouTube und Spotify. Auch eine eigene App ist geplant: Pierre Caulliez kann sich vorstellen, bei mehr als einer Million regelmäßiger Nutzer*innen für einen exklusiveren Zugang zum Angebot von „ForTeeNews“ 6,90 US-Dollar pro Monat zu veranschlagen. Wenn es nach den Projektionen des Gründers geht, könnte dies schon im September 2021 der Fall sein.

Mehr Trendreport vom VOCER Millennial Lab:

Es funkt!

Reuters Institute / #usethenews
Die da oben!
The Doe
Screenshot von InshortsScreenshot Inshorts
Reuters Institute
Screenshot von NAS Daily
Reuters Institute for the Study of Journalism

Die da oben! – „Im Bundestag ist Feuer drin“

Feuer im Bundestag? Dass es dort ziemlich kontrovers oder auch witzig zugehen kann und sich Abgeordnete auch mal heiß reden, zeigt Jan Schipmann wöchentlich als Host seines jungen Politikkanals im Social Web. Gemeinsam mit ZDF-Moderatorin Aline Abboud greift er mit ernstem Gesicht und schnoddrigem Ton Debatten aus dem Deutschen Bundestag und sporadisch auch Landtagen oder dem EU-Parlament auf und zeigt mal mehr, mal weniger prägnante Redeausschnitte von Abgeordneten zu Fragen, die die Gesellschaft bewegen oder gar zu polarisieren im Stande sind: Warum werden Corona-Demos verboten und dann wieder erlaubt? Warum hilft die EU Geflüchteten nicht mehr? Wie korrupt ist der Bundestag? Und wie wahrscheinlich ist ein gesichertes Grundeinkommen? Mit „Die da oben!“ erreichen der 33-Jährige und seine 32-Jährige Kollegin regelmäßig fünfstellige Abrufzahlen, mit ihren „Best Of“-Zusammenschnitten zur Speaker-Performance ausgewählter Politiker*innen sind es bisweilen deutlich mehr.

Im Rahmen seines Trendreportings betreibt das VOCER Millennial Lab ein kontinuierliches weltweites Monitoring von innovativen Nachrichtenangeboten für junge Zielgruppen. Die Reihe Millennial Medium des Monats stellt Best Practice-Beispiele aus dem In- und Ausland vor.

„Die da oben!“ ist seit April 2019 Teil von „Funk“. So umstritten das „Junge Angebot von ARD und ZDF“, wie das ambitionierte Großprojekt für junge Zielgruppen im Arbeitstitel hieß, von Anfang an war: Der Streit um eine vermeintliche Alimentierung von YouTube-Stars, die starke Präsenz auf Social-Media-Plattformen von US-Konzernen, der – an privatwirtschaftlichen Maßstäben gemessen – hohe Jahresetat von 45 Millionen Euro scheinen viereinhalb Jahre nach dem Start im März 2016 in den Hintergrund gerückt; denn funk ist in vielerlei Maßstäben erfolgreich. Mit aktuell über 60 Formaten reicht das Spektrum des „Content-Netzwerks von ARD und ZDF“ mit seiner Zentrale in Mainz von YouTube-Sketch-Comedys, Gaming-Formaten und Facebook-Live-Shows bis hin zu anspruchsvollen und reportagigen Magazin- und Nachrichtenformaten, deren Stärken im Recherchejournalismus liegen.

Die Medienforschung des Südwestdeutschen Rundfunks (SWR) und jene des ZDF ermittelten, dass annähernd drei Viertel der jungen Zielgruppe, die in ihrer Diversität teils der Generation Z, teils der Generation Y oder Millennials zugerechnet werden, das Angebot von „Funk“ kennen. „Wir müssen einen 14-Jährigen genauso wie einen 29-Jährigen erreichen. Das ist ein riesiges Feld. Das an einer Plattform zu machen, halten wir für komplett utopisch“, erklärte Geschäftsführer Florian Hager, aus der Programmleitung von Arte kam, zum Launch von „Funk“.  Vize-Geschäftsführerin Sophie Burkhardt ergänzt: „,Funk‘ ist ein Prisma: Wenn ich jetzt 14 bin, ist Funk für mich etwas Anderes, als wenn ich 24 bin. Wenn ich ein junger Mann bin ist es etwas anders, als wenn ich eine junge Frau bin. Je nachdem, aus welcher Perspektive ich darauf schaue, sieht Funk anders aus. Und das ist durchaus so gewollt. ‚Funk‘, das sind viele kreative Menschen, die im Internet Videoprojekte machen, die nur dort stattfinden und nur mit ‚Funk‘.“

Nicht grell laut, aber lustig ernst

In diesem Prisma leuchtet das Redehighlights-Format „Die da oben!“ nicht am grellsten, auch nicht am lautesten. Unter den aktuellen „Funk“-Formaten aus dem Newssegment belegt es auch bei den Followerzahlen nicht den Spitzenplatz. „Funk“-Formate empfehlen sich gern untereinander. Als die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim auf ihrem vielbeachteten Kanal „maiLab“ den unterhaltsamen Blick von Abboud und Schipmann in den Bundestag lobte, gab es einen Schub in den Abonenntenzahlen und viele digitale Kekse in den Kommentarspalten.  Innerhalb von eineinhalb Jahren haben sich die Parlamentsberichte bereits ein loyales und diskussionsfreudiges Publikum erarbeitet, das das Format für seine Geradlinigkeit und seine humorvoll-pointierte Verständlichkeit schätzt. „Die da oben!“ ist politische Aufklärung für junge Erwachsene, knüpft Zusammenhänge, stellt politische Positionen gegenüber, dekonstruiert Widersprüche oder schöpft rhetorische Glanzleistungen aus den Parlamentsdebatten. Mandatsträger*innen werden daran gemessen, wie und worüber sie in der Volksvertretung kommunizieren: „Wir bilden das ab, was unsere Politiker in den Parlamenten so treiben“, sagt Jan Schipmann im Interview. Bei der Verwendung von Falschinformationen in Parlamentsreden werden redaktionelle Korrekturhinweise gegeben. Damit richtet sich das Format an 19- bis 29-jährige, bei denen mit der nachschulischen Unabhängigkeit auch das Interesse für bundespolitische Themen und Entscheidungsprozesse keimt. Es geht um die Sozialisation zu mündigen Staatsbürger*innen – gerne auch mit einer Bazooka, um ein Zitat der „explosiven Geheimwaffe Olaf Scholz der Sozialdemokraten“ aufzugreifen.

Dabei sollen die jungen Nutzer*innen nicht unterschätzt werden: Wenn eine Partei in ihrer parlamentarischen Redezeit keinen einzigen konstruktiven Lösungsvorschlag formuliere, dann merke das auch der uninformierte Zuschauer, glaubt Schipmann. Je konkreter Lösungsansätze seitens der Politik debattiert würden, desto eher werde es vom jungen Publikum wertgeschätzt. Daraus würden politische Haltungen geformt, bei welchen Parteien sich ein junger Mensch mit seinen Zielen oder auch Nöten aufgehoben fühle, als Wähler oder aktiv politisch gestaltend. So lässt das Host-Duo bei aller umgangssprachlichen Lässigkeit ihrer Moderation in der Regel seine persönlichen Meinungen außen vor. Es gilt das Gebot der Ausgeglichenheit. Gezeigt werden solle, wie groß das Meinungsspektrum im Bundestag ist. Aline Abboud möchte zudem eine „weibliche Perspektive auf das ziemlich männliche Parlament“ bieten. Haltung scheint auch dann und wann durch, vor allem gegen jegliche Form des Extremismus: „In den Sozialen Medien funktionieren krasse Meinungen und krasse Bilder“, weiß Schipmann. Umso wichtiger sei es aus seiner Sicht, dass Journalismus „für junge Menschen, die sich im politischen Raum noch nicht so gut orientieren können“, eine relativ neutrale Berichterstattung und Einordnung bietet. Sich selber in den Vordergrund zu stellen, helfe nicht.

Name: Die da oben!
Produktionsfirma: Hyperbole Medien GmbH
Sitz: Frankfurter Allee 13-15, 10247 Berlin
Website: http://www.hyperbole.de/formate/die-da-oben-2/
Gründung: April 2019
Gründer: Jan Schipmann
Moderator*innen: Aline Abboud, Jan Schipmann
Teamgröße: 14 (Redaktion: 3)
Veröffentlichte Videos seit Start:
> 100 (YouTube)
> 200 (Facebook)
Follower:
YouTube > 51k
Facebook > 45,5k
Instagram > 18,9k
Telegram: > 800

(Stand: September 2020)

Informr als Basis

Jan Schipmann hat eine „Funk“-Vergangenheit. Er gehört seit den ersten Monaten zur Familie: Mit „Informr“ startete er im Dezember 2016 ein politisches Interview-Format, damals noch redaktionell betreut vom Jugendsender MDR Sputnik. Zum Jahreswechsel 2018/19 lief nach etwa 300 Videos die Zusammenarbeit mit MDR Sputnik aus. Der Sender entschied sich, seine „Funk“-Inhalte verstärkt selbst zu produzieren; für Schipmann kein Rückschlag, auch weil er vom Konzept eines niedrigschwelligen, aber nicht unterkomplexen Politikformats junge Leute mit Aktivierungsimpetus überzeugt geblieben ist. Heute erkennt er Adaptionen von „Informr“ bei der „Diskuthek“ von stern.de oder beim „Machiavelli“-Podcast des WDR. Der Neustart gelang der Hyperbole Produktionsgesellschaft, bei der Schipmann als Redaktionsleiter Politik arbeitet, im Direktpitch in der „Funk“-Zentrale: Das kleine Berliner Unternehmen aus der Frankfurter Allee überzeugte die digitalen Programmplaner, ein Scout-Team aus Redakteur*innen des ZDF und der ARD-Rundfunkanstalten BR, MDR, WDR, Radio Bremen und RBB, mit dem Konzept einer wöchentlichen themenzentrierten Aufarbeitung parlamentarischer Debatten. Mit dem konsequenten Fokus auf Themen wurde das Profil schärfer: „Im Gegensatz zu ,Informr‘ wissen die Leute, was sie bekommen, wenn sie auf unserer Webseite sind.“ Vagheit wurde ersetzt mit einem engen Blickwinkel auf Politik: das Handeln politischer Akteure in den politischen Arenen.

Jan Schipmann

Jan Schipmann

Die meisten Zuschauer*innen klicken nach Beobachtung der Redaktion aus Themeninteresse auf die Videos und nicht etwa, weil sie zu einer regelmäßig wiederkehrenden Fanbase gehören, die sich durch eine „krasse Politikaffinität“ auszeichne, so Schipmann. Entsprechend werden bevorzugt gesellschaftliche Debattenthemen aufgegriffen, die in der Lebenswirklichkeit junger Menschen vor-, im politischen Diskurs aber häufig noch zu kurz kommen: LGBTQ+,Menschenrechte, Uploadfilter, Rassismus, Klimaschutz, die Zukunft der Technik, Entwicklung des Arbeitsmarkts und so fort. „Es gibt aber auch super viele Vollnerds, die zusätzlich sogar Phoenix einschalten“, berichtet Schipmann. Diesem Teil des Publikums gehe es um unterschiedliche Perspektiven auf Politik – sie wollen möglichst breit und vielstimmig informiert werden. Dennoch sieht sich Schipmann als Gegenentwurf des traditionellen Politikjournalisten: „Vielen geht es um die Ansprechhaltung: Bei Phoenix hast du einfach den Old-School-Parlamentsberichterstatter. Das kann man mögen. Das ist sehr akribisch, reflektiert und kompetent. Aber es ist nicht gerade ein Feuerwerk der Emotionen. Wenn ich Anfang 20 wäre, hätte ich wenig Bock, das zu gucken.“

Divers und kontrovers

Aline Abboud

Sein Co-Host Aline Abboud kommt aus der heute-Redaktion des ZDF, hat beim Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestags volontiert und steht ihrem Kollegen in Sachen spitzzüngiger Klarheit nicht nach und ist für Schipmann eine Idealbesetzung: „Es gibt nicht gerade einen Frauenüberschuss im politischen Journalismus“, beklagt er. Die 1988 in Ost-Berlin geborene Arabistin sei für das Format die „perfekte erste Wahl“ gewesen. Schipmann selbst studierte Germanistik, Musikwissenschaften und Philosophie und drängte schon früh mit seinem „Alles-und-Nichts-Profil“ in den Journalismus: Mit Anfang 20 machte er bei „Kölncampus“ Hochschulradio und belegte als studentischer Mitarbeiter Schichten bei den Vox-Nachrichten. Danach betreute er mehrere Jahre Livesendungen beim Radiokanal WDR5. 2016 kam Schipmann dann zu Hyperbole und ist mittlerweile dienstältester Mitarbeiter der im Jahr 2015 gegründeten Firma.

Wie bei allen „Funk“-Formaten ist auch „Die da oben!“ nicht ausschließlich auf einer Social-Media-Plattform zuhause: Sämtliche Videos werden auch auf der Website von „Funk“ unabhängig von den großen Portalen veröffentlicht. Facebook und YouTube halten sich jedoch die Waage, mit unterschiedlichen Reichweitenfaktoren: Bei YouTube erscheinen die regulären Videos in voller Länge und ohne Untertitel, die für gewöhnlich zwischen zwei und neun Minuten variiert. Bei Facebook folgt die Redaktion einer anderen Plattformspezifik und untertitelt alle Inhalte, da Nutzer*innen hier Videos überwiegend mobil ohne Ton rezipieren. Auch werden bei Facebook zusätzlich kurze Video-Auszüge aus verschiedenen Debatten gepostet, die als Statements einzelner Politiker*innen entweder besonders kontrovers oder clever erscheinen. Bei Facebook seien die Videos, obwohl die Abonnentenzahlen im Direktvergleich hinter YouTube zurückfallen, reichweitenstärker, sagt Schipmann. Bei Googles Videoportal aber gäbe es die „krasseste Retention Rate“, die loyalsten Nutzer*innen. Und dennoch hadert die Redaktion bei YouTube mit der starken Gesichtsfixierung der Plattform: nicht die Themen, sondern die Creators stünden im Vordergrund, sperrige Inhalte hätten es daher schwer. So zeigen Abboud und Schipmann hier häufiger Gesicht und nähern sich damit Formaten wie „Deutschland3000“ mit Eva Schulz an, die mit der starken Persönlichkeit ihrer Presenter beim Publikum zu punkten versuchen.

Auch „Die da oben!“ reiht sich ein in die Riege stark personalisierter Formate bei „Funk“, die in der Sphäre des Social Web Reichweite bringen sollen: „Worauf wir Wert legen, wenn wir mit Produzenten sprechen, ist, dass es ein schlüssiges Reichweiten- und Distributionskonzept geben muss“, sagt „Funk“-Vize-Geschäftsführerin Sophie Burkhardt: „Für uns ist es wichtig, dass man nicht nur von der redaktionellen Idee ausgeht, die man selber gut findet und sich darauf verlässt, dass das journalistische Projekt sein Publikum finden wird. In dem Umfeld, in dem wir uns bewegen, muss Distribution und Reichweite in einem klaren Konzept von Anfang mitgedacht werden.“ So ist es schon verdienstvoll, wenn ein auf Interaktion mit jungen Politikinteressierten angelegter Kanal wie „Die da oben!“ mit dem Charisma von Abgeordneten für eine kritische Auseinandersetzung mit parlamentarischer Debattenkultur wirbt, die andernfalls an junge Leute nur schwer zu vermitteln ist.

„Telegram nicht den rechten Influencern überlassen“

Zwischendurch wird gern weiterempfohlen: Berichte von „Süddeutscher Zeitung“, „Zeit Online“, „Tagesschau.de“, „Spiegel Online“, „taz“, Deutschlandfunk zu den großen Themen dieser Zeit. Die Lektüretipps gibt es täglich über den Messenger Telegram, nicht etwa nur weil Whatsapp es Redaktionen nicht mehr erlaubt, große Verteiler zu bedienen. „Telegram kann mehr seriöse Politikberichterstattung vertragen“, meint Jan Schipmann. „Wir wollen rechten Influencern dort nicht das Feld überlassen.“ Innerhalb von einer Woche habe man den (RSS-)Kanal der Tagesschau bei Telegram überholt. Zugegeben fallen die Reichweiten der Nachrichtenanbieter hier deutlich bescheidener aus als anderswo – „Die da oben!“ hat knapp 860 Abonnenten, „tagesschau.de“ liegt aktuell bei ca. 110). Der kleinere Kreis dient allerdings als Entwicklungsfeld für einen intensiveren und exklusiveren Kontakt zu besonders loyalen Nutzer*innen, die aktiv Bedarf anmelden an weiterführenden Hintergrundinformationen, die über die Inhalte der Videos speziell auf dem YouTube-Channel hinausgehen.

Der Austausch mit dem Publikum ist meist konstruktiv, es gibt aber auch viel Geplänkel. Schon zu Zeiten von „Informr“ habe er regelmäßig Zuschriften erhalten, berichtet Schipmann, in der Regel über Direktnachrichten via Facebook Messenger und mittels Kommentaren bei YouTube, Facebook, Instagram. E-Mails sind dagegen nicht relevant. Direktnachrichten erreichen die Redaktionen meist dann, wenn Nutzer*innen Nachfragen stellen, es genau wissen wollen. Aber auch Dankbarkeit ist ein Thema und Ansporn: „Kids schreiben uns: ‚Geiles Video, das habe ich im Unterricht benutzt.‘“, freut sich Schipmann. „So erfüllen wir unseren klassischen Bildungsauftrag.“ Junge Leute bedankten sich gerne für Beiträge, von denen sie sich gut informiert fühlen, die sie inhaltlich weiterbringen – ein Labsal für die redaktionelle Seele. Hin und wieder darf das Publikum auch abstimmen: über das nächste Best-Of-Video für die Sommerpause zum Beispiel.

Dabei soll penibel auf eine ausgeglichene Auswahl aller im Parlament vertretenen Fraktionen geachtet werden. Der Anspruch ist im Detail schwer durchzuhalten. Schnell kann sich eine Redaktion dabei in der Auszählung von Redezeiten der Parteien verheddern. So genau kann sie es damit auch nicht halten: Es werde sich aber darum bemüht, Ausgeglichenheit herzustellen. „Bei jeder Debatte, die wir behandeln, sollen die Positionen der verschiedenen Fraktionen deutlich werden. Dazu muss aus jeder Fraktion mindestens ein Politiker vorkommen. Wenn aber jemand ein Feuerwerk in der Debatte abgeliefert hat, dann kann es schon sein, dass diese Person mit etwas größerem Redeanteil dabei ist. Wir würden aber niemals drei Videos hintereinander veröffentlichen mit Auftritten ein und desselben Politikers. Darauf achten wir auch video-übergreifend“, sagt Schipmann.

Vollständig und ausgeglichen, so gut es geht

Mit Hass und Hetze wird die Redaktion nur selten attackiert, allenfalls muss sie auf Diskurshygiene achten, wenn die politischen Akteure und Themen in ihren Videos Ziel solcher Angriffe werden und der Ton einzelner Nutzer*innen entgleist. Wiederkehrend sind auch Rechtfertigungen nötig, weshalb auch Redebeiträge von Abgeordneten der AfD aufgegriffen werden. Schipmann stellt fest: „Wir sind natürlich als öffentlich-rechtliches Format in der Position, jede Partei abzubilden. Wir wollen Demokratie und Demokratieverständnis fördern. Und solange die AfD nicht vom Verfassungsschutz verboten wird, wird sie auch bei uns vorkommen. Das ist unser Programmauftrag. Natürlich gibt es auch einen Ermessensspielraum, etwas nicht abzubilden wie zum Beispiel, wenn jemand volksverhetzende Dinge im Parlament sagt. Es bleibt aber ein Spagat; denn viele meinen, wir sollten der AfD keine Bühne geben. Journalismus ist aber kein Wünsch-dir-was, sondern wir haben es mit Parlamenten in der Vielfalt ihrer Fraktionen zu tun. Wer da den Blick einschränken würde auf einige ausgewählte Fraktionen, würde meiner Ansicht nach damit nur Politikverdrossenheit fördern.“

Wenn einzelne Videos zu bestimmten Reizthemen und -figuren die „Bubble“ der jungen Zielgruppe durchstößen und die Beiträge auch in geschlossenen „Wutbürger-Gruppen“ geteilt würden, zeigt sich für Schipmann indes die Kehrseite der Sharing-Culture. Dann schlage der Pegel schnell einmal aus, und die Kritik treffe auch die Redaktion: „Wir wurden schon als Altright bezeichnet, aber auch als Antifa-Kanal. Mein Favorit bis heute ist der Vorwurf, wir seien ein schwarz-grüner Propagandakanal.“ Bei Kritik aus gegensätzlichen Lagern fühlt sich Schipmann letztlich in seinem Anliegen bestätigt, seinen Informationsauftrag überparteilich wahrzunehmen.

Gravierender scheint sich die demographische Entwicklung auszuwirken: Der Instagram-Kanal von „Die da oben!“ wächst, aber langsam. Die Plattform für visuelle Inhalte erfährt erst nach und nach ein politisches Frühlingserwachen, vor allem durch junge bzw. jugendliche soziale Bewegungen wie Fridays for Future. Über den „Funk“-Hub auf Instagram erreichen „Die da oben!“-Videos steigende Abrufzahlen. Dennoch ist das (Anspruchs-)Potenzial noch nicht ausgeschöpft: „Instagram ist für uns enorm wichtig. Auf Instagram sind deutlich jüngere Menschen unterwegs, und das Diskussionsklima ist häufig konstruktiver und angenehmer als bei Facebook“, sagt Jan Schipmann. „Außerdem gibt es sehr viele verschiedene Content-Typen, die uns eine sehr abwechslungsreiche Berichterstattung erlaubt. Pic Post, Feed-Video, IGTV, Story, Reel, Live – wir können so für jedes Thema die für uns passende Herangehensweise wählen.“ So wichtig Facebook noch in der redaktionellen Distributionsstrategie von „Die da oben!“ ist, wird die Nutzerschaft auf der Plattform im Schnitt immer älter. Instagram wird deshalb immer stärker zur Lebensader für junge Nachrichtenformate. Die Altersverschiebung innerhalb des Publikums hat bereits einem anderen, zudem preisgekrönten „Funk“-Format den Garaus gemacht: „Jäger und Sammler“ wurde Ende 2019 eingestellt. Andere hochgelobte Formate wie „Softie“ (bis 2019) oder „Karakaya Talk“ (bis 2020) wurden nach kurzer Zeit ebenfalls überraschend beendet, weil sich Relevanzkriterien in dem volatilen Segment der jungen Nachrichten- und Unterhaltungsangebote einem steten Aushandlungsprozess befinden.

Stillstand ist keine Option

So wird sich auch „Die da oben!“ weiterentwickeln müssen, in der Art und Weise, wie der Blick in und auf die Parlamente geworfen wird, wie der Umgang mit politischer Debatte vermittelt wird, und wie Themen ausgewählt werden: Es gelte, „sich von verschwurbelter Sprache abzusetzen, die aus meiner Sicht immer noch das größte Hindernis darstellt, um Politik an eine breite Masse zu kommunizieren, weil viele Menschen gar nicht verstehen, worum es bei den politischen Themen geht“, sagt Jan Schipmann. Er wolle noch mehr junge Menschen inspirieren, sich für Politik zu interessieren und sich zu engagieren. Humor ist dabei ganz offensichtlich – auch für die so wichtige unaufdringliche Kurzweiligkeit – ein wichtiger Faktor.

Er halte weiterhin die Augen auf: Was fehlt im Politikjournalismus? Wo gibt es Leerstellen, wo werden junge Leute gelangweilt oder vergrault? Inspirationen müssen fließen, zugleich müssen die Abhängigkeiten von Plattformalgorithmen wachsam begleitet werden, die darüber entscheiden, wie die eigenen Inhalte ausgespielt werden. Schipmann empfindet den Kreativdruck als sportliche Herausforderung: Wenn man sich von den Zwängen nicht freimachen kann, muss man ihnen umgehen.

Ein Risiko, dass das Content-Netzwerk für „Die da oben!“ den Stecker zieht, sieht Jan Schipmann aktuell nicht. Gleichwohl beobachtet er aufmerksam die Produktentwicklung der Plattformkonzerne, die Releases neuer Features und Trends in der Mediennutzung. Was weiterhin zähle, seien Inhalte, gibt Schipmann programmatisch aus. Manche Formate seien irgendwann einfach auserzählt. Dass dann ein Schlussstrich gezogen werde, sei nachvollziehbar. Bei „Funk“ würden solche Entscheidungen in der Regel auch transparent kommuniziert. Als Produktionsfirma stehe es einem stets frei, eine neue Idee vorzustellen. Schließlich solle man, mein Schipmann, in diesem Geschäft permanent daran arbeiten, sich neu zu erfinden: „Wenn ich jahrelang immer das gleiche machen würde, wäre ich echt gelangweilt. Innerhalb unseres medialen Feldes gibt es so viele Art und Weisen, Geschichten zu erzählen und Informationen zu vermitteln, um politische Bildung zu betreiben.“

Mehr Trendreport vom VOCER Millennial Lab:

The Doe – Honest. Verified. Anonymous.

„Civil discourse is broken. We’re here to change that“ – Mit der Aussage, dass der gesellschaftliche Diskurs kaputt sei und sie das ändern möchten, hat der Gründer von „The Doe“ den Grundstein gelegt. Milan Kordestani hat sein Projekt mit zwei unterschiedlichen Zielen gestartet: Zum einen möchte er die Denkweise der Menschen herausfordern und zum anderen gibt es jeden Monat Geschichten aus verifizierten, anonymen Quellen – von Menschen, die eine Geschichte zu erzählen haben.

Im Rahmen seines Trendreportings betreibt das VOCER Millennial Lab ein kontinuierliches weltweites Monitoring von innovativen Nachrichtenangeboten für junge Zielgruppen. Die Reihe Millennial Medium des Monats stellt Best Practice-Beispiele aus dem In- und Ausland vor.

Der Artikel „We Had 48 Hours: How Teachers Transformed the Education System Over a Weekend“, der den Grundgedanken von „The Doe“ besonders anschaulich erklärt, handelt von einer Lehrerin, die nach Verkündung des Lockdowns 48 Stunden Zeit hatte, um ein digitales Pendant zum bisherigen Unterricht zu entwickeln – am Freitag kam die Ansage, die Lehrer*innen sollen den Inhalt der jeweiligen Schulstunden für den digitalen Unterricht vorbereiten und am Montag wurde bereits online unterrichtet. Und während sie zu Beginn tatsächlich die Konzepte, die sie für den Schultag vorbereitet hatte, lediglich auf den Online-Unterricht übertrug, merkte sie schnell, dass das nicht funktioniert. Sie schreibt, von außen würde es vielleicht so aussehen, als hätten sie nur ein Problem zu lösen gehabt – wie man online unterrichtet.

Dabei ging es vielmehr darum, wie man auf Schüler*innen eingeht, die beispielsweise spezielle pädagogische Betreuung im Unterricht benötigen. Oder wie man mit Schüler*innen umgeht, die psychische Probleme haben. Umgekehrt ging es auch darum, wie Lehrer*innen mit gesundheitlichen Problemen oder Kindern mit der Situation umgehen können.

Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, auch die zu Wort kommen zu lassen, die zwar keine eigene Plattform haben, jedoch relevante Einblicke gewähren können, um Situationen besser zu verstehen.

In dem Artikel „I’m a Ballerina and I Use Alcohol as a Coping Mechanism“ erzählt etwa eine Ballerina von ihrem Traumberuf, allerdings auch von der Besessenheit davon, immer besser zu werden und ihrem daraus resultierenden Alkoholproblem, das sie nach vielen Jahren des Tanzens als Erwachsene entwickelte. Sie bricht mit dem von außen vermeintlich perfektem Bild der Ballerina. Ebenso spricht in „What It Was Like Being a Stripper“ eine ehemalige Stripperin von den Anfängen ihrer Karriere und davon, wie sie am Ende einer neunstündigen Schicht ohne nennenswertes Einkommen zuhause ankommt.

Die Idee für „The Doe“ entstand aus einem persönlichen Bedürfnis heraus

Es sind solche Geschichten, die Blicke hinter die Kulissen gewähren und persönliche, echte Meinungen enthalten. „Wir leben in einer interessanten Zeit. Denn abgesehen davon, dass es eine Vielzahl an Medien gibt, herrscht gleichzeitig wenig Vertrauen in die Medien. Die Menschen sind müde davon, immer die gleichen Geschichten zu hören und haben gleichzeitig das Gefühl, dass ihre eigene Stimme nicht gehört wird.“, erklärt Gründer Milan Kordestani.

The Doe - Logo

Name: The Doe
Sitz: kein Office, die Redaktion arbeitet hauptsächlich von Colorado und Kalifornien aus
Website: thedoe.com
Gründung: Launch war am 1. Juni 2020
Gründer: Milan Kordestani
Teamgröße: 3
Follower/Abrufe:
Instagram > 195k
Twitter > 50k
Facebook > 1,7k

(Stand: August 2020)

Der 19-Jährige Kordestani hat bereits als Teenager für die „Huffington Post“ geschrieben. Eine Leidenschaft für das Schreiben hatte er laut eigener Aussage schon immer, doch erst als er etwas veröffentlichen konnte, hatte er das Gefühl, dass er etwas zu sagen und dies wiederum auch Gewicht habe. Als die Redaktion geschlossen wurde, verlor er nicht nur eine für ihn als Autor relevante Plattform, sondern hat ohnehin eine Zeitlang nicht geschrieben. Nach dieser Pause verfasste er nach eigenen Angaben eher Erzählungen und Kommentare anstatt journalistischer Artikel. Viele von ihnen waren sehr persönlich, andere wiederum provozierend – aus beiden Gründen wollte er sie anonym veröffentlichen. „Als ich kein Medium finden konnte, wo das möglich war, war ich zwar enttäuscht, aber auch begeistert von der Möglichkeit, das selbst aufzubauen.“, sagt Milan Kordestani.

Es kann von Vorteil sein kann, anonym zu veröffentlichen

Wie realistisch ist es, vollkommen unvoreingenommen eine Geschichte zu hören? Durch die eigene Sozialisation stecken wir Menschen in Schubladen oder verurteilen sie. Milan Kordestani stellt die Fragen, die man sich selbst wohl bei einer neuen Begegnung stellen würde – sei es bewusst oder unbewusst: „Ist unser Gegenüber liberal oder konservativ? Arm oder wohlhabend? Zählt die Meinung gleich viel, auch wenn sie oder er nicht aufs College gegangen sind? Ist es wichtig, ob das College nicht zur Elite gehört?“ Für ihn entsteht durch diese Fragen ein Bruch im gesellschaftlichen Diskurs. Durch Social Media wurde es zwar möglich, weltweit mit Menschen zu kommunizieren, dabei ist man allerdings niemals losgelöst von den eigenen Vorurteilen. Wir sehen Menschen und bewerten sie – bei „The Doe“ wird unter Pseudonym geschrieben und nicht kenntlich gemacht, wie alt die schreibende Person zum Beispiel ist oder woher sie kommt.

Die Idee des anonymen Veröffentlichens mag kein grundlegend neuer Ansatz sein, entspricht historisch gesehen jedoch nicht der Motivation von vielen amerikanischen Unternehmen, vor allem nicht der von Medienunternehmen. Für Milan Kordestani setzen die meisten Fernsehsender, Magazine und Websites hauptsächlich auf Ruhm, Gesichter und Persönlichkeiten, um ihre Medien zu pushen. Deshalb wollte er mit „The Doe“ diese Lücke schließen und hat die gegenteilige Haltung angenommen. Der offizielle Launch der Website war am 1. Juni 2020, das Angebot erreicht laut eigener Angabe (Stand: Juli 2020) aktuell etwa 16.000 Menschen, die Leser*innen gehören hauptsächlich zu den Millennials und sind zu 70 Prozent zwischen 18 und 34 Jahre alt.

Trotz Anonymität gibt es immer einen gemeinsamen Nenner

Da alle Geschichten anonym veröffentlicht werden, werden sie durch einen monatlichen Themenfokus auf einen gemeinsamen Nenner gebracht beziehungsweise eingeordnet. Es gibt unterschiedliche Themenbereiche wie Umwelt, Mental Health und Liebe, die als eine Art Grundgerüst für die Plattform fungieren. Gleichzeitig gibt es jeden Monat ein Überthema, das den Rahmen für die Auswahl der Inhalte schafft. Für die nächsten Monate sind beispielsweise Bildung, Gerechtigkeit, Politik, Popkultur oder Wissenschaft und Tech geplant. Insgesamt garantiert die Redaktion pro Monat elf Geschichten, es werden allerdings eher zwischen 30 und 40 Stück werden, meint Milan Kordestani. Zu Beginn musste die Redaktion auf potenzielle Autor*innen zugehen und sie gezielt suchen, das hat sich inzwischen geändert: Pro Monat erhält die Redaktion etwa 50 oder 60 Pitches.

In Zeiten von Fake News und Self Publishing hat es sich die Redaktion nicht nur zur Aufgabe gemacht, Geschichten zu veröffentlichen, sondern vor allem zu verifizieren. Nachdem sie eine gute Story erhalten haben und diese teilen möchten, beginnen sie zu recherchieren. Sie sprechen nicht nur persönlich mit der Person, sondern lassen sich Gegebenheiten beispielsweise durch Dokumente bestätigen und recherchieren auch zur Person selbst. Ist die Geschichte geprüft, beginnen die Redakteur*innen mit der schreibenden Person am Text zu arbeiten oder interviewen sie, um im klassischen Fragen-Antwort-Stil zu erzählen.

Andere Geschichten werden genau umgekehrt produziert. Zunächst ist das die Idee und es wird nach Menschen gesucht, die darüber sprechen möchten. Auch hier wird alles überprüft und verifiziert.

Anonyme Einblicke in die redaktionelle Arbeit gewährt die Redaktion mit einem Instagram-Post, in dem Autor*innen oder Geschichtenerzähler*innen als Testimonials ihre Erfahrung mit der Zusammenarbeit mit „The Doe“ teilen. So schreibt „Countrycitygirl“, „The Doe“ wäre zweifelsohne die beste Publikation, mit der man arbeiten könne. „Logophile“ sagt, dass es großartig sei, für The Doe zu schreiben. Er oder sie liebt die Möglichkeit, so offen über persönliche und kontroverse Erfahrungen zu schreiben, ohne Angst vor starken Gegenreaktionen haben zu müssen.

Obwohl sich alle Schreibenden und Erzählenden ohnehin schon bewusst mit dem Thema und natürlich ihrer persönlichen Geschichte auseinandersetzen, sollen sie es auch immer möglichst kontrovers und nochmal aus mehreren Blickwinkeln betrachten. Dadurch hat sich eine sehr erfolgreiche Publikationsstrategie ergeben: Das Veröffentlichen von zwei Narrativen mit komplett gegensätzlichen Meinungen zum selben Thema. Zusätzlich dazu werden die Leser*innen nach ihrer Meinung gefragt und zur Diskussion gebeten.

„The Doe“ setzt auf zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Monetarisierung

Für den Gründer war von Anfang an klar, dass auf „The Doe“ keine Werbung geschalten wird, da es nicht nur den Lesefluss unterbrechen würde, sondern auch nicht sehr authentisch wäre. Stattdessen wird auf zwei Möglichkeiten der Monetarisierung gesetzt:

  1. Zum einen das „Pay what you want“-Abonnement. Der Gedanke dahinter war, dass jede*r durch unterschiedliche sozioökonomische Hintergründe beeinflusst wird und dennoch alle den Zugang zu den Stories haben sollen. Deshalb bezahlen die Leser*innen so viel wie sie können. Das kann ein Dollar oder können hundert Dollar im Monat sein, alle können nach ihren eigenen Möglichkeiten etwas dazugeben.
  2. Zum anderen gibt es Merchandise, was für Medien eine eher unübliche Einnahmequelle ist. „Wir haben eine Modekollektion entworfen, die unsere Mission unterstützt. Jedes Kleidungsstück ist an eines unserer monatlichen Themen geknüpft. Man hat damit also nicht nur ein modernes Piece in guter Qualität, sondern erzählt auch eine Geschichte und kann dadurch eine Konversation starten.“, erklärt der Kordestani.

„The Doe“ verdienst allerdings nicht nur Geld, sondern spendet seit Kurzem auch. So werden jeden Monat entsprechend des Themas vier Organisationen ausgesucht, die das Projekt finanziell unterstützt. Die Leser*innen können darüber abstimmen, wem wieviel Geld gespendet wird. Die meist gewählte Organisation erhält 800 US-Dollar, die anderen gestaffelt 600, 400 und 200 US-Dollar.

Für Milan Kordestani ist Innovation das Wichtigste

Die Medienwelt hat sich verändert. Unter dem von der Digitalisierung geprägten Umstieg von gedruckten Zeitungen und traditionellen Medien haben viele gelitten. Die großen Publikationen waren gezwungen, Paywalls zu errichten, um Geld zu verdienen. Andere wiederum mussten schließen. Für den Gründer ist die Lösung simpel: Jede*r ist gezwungen, innovativ zu bleiben, um sich zu bestehen.

Sein Ziel mit „The Doe“ ist es, dass die Stories länger als 20 Sekunden gesehen beziehungsweise gelesen werden und im Gedächtnis bleiben. Die Leute sollen miteinander sprechen und Gemeinsamkeiten finden, es soll ein generationsübergreifender Dialog geschaffen werden. „The Doe“ entwickelt sich ständig weiter und möchte die Grenzen des klassischen Journalismus überschreiten. „Alles, was wir als Unternehmen tun, ist daran gekoppelt, den gesellschaftlichen Diskurs weiterzuentwickeln.“, sagt Milan Kordestani.

„The Doe“ traut sich, anders zu sein und anders zu veröffentlichen

Obwohl das junge Medium noch nicht lange online ist, verzeichnet es ein enormes Wachstum, was beim Blick auf die Follower in Social-Media-Netzwerken wie Instagram deutlich wird. Innerhalb weniger Wochen ist die Zahl um ein Dreifaches gewachsen und auf der Homepage selbst wurden immer mehr Artikel veröffentlicht.

Zwar sind Meinungen und Anonymität generell auf den ersten Blick nicht immer fundiert oder glaubwürdig, dennoch spielt beides in einer gesellschaftlichen Diskussion eine wichtige Rolle. Und „The Doe“ schafft eine Symbiose aus beidem. Sie veröffentlichen gut recherchierte Artikel zu Themen, zu denen wohl alle Leser*innen etwas zu sagen haben – allerdings werden genau diese Denkweisen durch die persönlichen Erfahrungen und Meinungen der Autor*innen hinterfragt und teilweise auch widerlegt. Wer weiß schon wirklich, wie es hinter den Kulissen der Schule aussah, wie schnell alles gehen musste oder worauf man beim Online-Unterricht achten muss? Erst durch den Artikel, in dem die 48 Stunden und die Anfänge des digitalen Schulalltags geschildert wurden, bekommt man ein Gefühl dafür.

Anmerkung: Wir hätten dieses Porträt gerne in ausgewählten Aspekten vertieft. Leider war Milan Kordestani nicht dazu bereit, weitergehende Fragen zu beantworten.

Mehr Trendreport vom VOCER Millennial Lab:

Inshorts – „News in 60 words“

Es ist eine dieser vermeintlich typischen Start-up-Geschichten: Drei Kommilitonen einer technischen Elite-Universität ärgern sich über das unübersichtliche Tohuwabohu der digitalen Nachrichtenangebote in ihrem Land und entwickeln eine App.

Im Rahmen seines Trendreportings betreibt das VOCER Millennial Lab ein kontinuierliches weltweites Monitoring von innovativen Nachrichtenangeboten für junge Zielgruppen. Die Reihe Millennial Medium des Monats stellt Best Practice-Beispiele aus dem In- und Ausland vor.

Entscheidendes Alleinstellungsmerkmal: Artikel unterschiedlicher Anbieter werden in aller Kürze in maximal 60 Worten zusammenfasst und mit der originalen Langversion verlinkt.

In fünf Finanzierungsrunden sammeln sie über 24 Millionen US-Dollar an Investitionsmitteln ein. Nach mittlerweile sieben Jahren ist „Inshorts“ eine der meistgenutzten Nachrichten-Apps Indiens und expandiert nach Europa. Zudem bricht der erst Ende 2019 gestartete Ableger „Public“ als Stand-alone-App mit Fokus auf nutzergenerierte hyperlokale Videoinhalte in Indiens Mittelstädten (100.000 bis 150.000 Einwohner) alle Rekorde.

Auf den führenden Social-Media-Plattformen ist der manuell kuratierte Newsaggregator zwar präsent, Dreh- und Angelpunkt von „Inshorts“ sind aber die App und die eigene Website: Aktuell gibt es 16 Rubriken – von nationaler Berichterstattung, Wirtschaft, Politik, Sport und Technologie über Startups, Entertainment und Bildung bis zu Internationalem, Auto, Wissenschaft, Reisen, Mode und Themen jenseits des Mainstreams.

Für seine Kuratierung zur nationalen Berichterstattung über die Corona-Pandemie wurde „Inshorts“ von Google als eine von drei Apps empfohlen, um mit Blick auf Indien auf dem neuesten Stand zu bleiben.

Die wesentlichen Merkmale der App:

  • Die kurzen Zusammenfassungen externer Nachrichteninhalte von aktuell über 70 Anbietern werden von einem 80-köpfigen Redaktionsteam manuell erstellt.
  • Kuratiert werden nur klassische Nachrichten, keine Meinungsbeiträge, zusammengestellt als sogenannte Story-Cards, die einen schnellen Überblick über die Themenlage geben.
  • Der Aggregator entwirft sich offensiv politisch unabhängig als Gegenentwurf zu einigen publizistischen Flaggschiffen des Landes, die mit klaren Festlegungen auf eine politische Agenda ihr Stammpublikum zu binden versuchen.
  • Die Bedienung der App folgt den bekannten Navigationsmustern von Social-Media-Feeds per Wisch nach links (zurück), rechts (mehr lesen), unten (nächste Zusammenfassung) und oben (Feed aktualisieren).
  • Die App ist ohne Umstände sofort ohne Anmeldung nutzbar.
  • Werbung ist unaufdringlich in den Feed integriert und kann weitergewischt werden wie die Zusammenfassungen der Nachrichtenbeiträge.

Mitbegründer und Chefstratege Deepit Purkayastha formuliert den Anspruch an die App damit, dass Nutzer*innen in zehn Minuten ihrer täglichen Medienzeit übersichtlich und schnell eine Auswahl an Nachrichten erhalten sollen, die sich aus ihren Themeninteressen und der manuellen Kuratierung der Redaktion ergeben: „Wer will schon jeden Tag aufs Neue aufwändig auswählen, wie man sich informieren möchte?“, meint der Mittzwanziger. Neben Nutzungskomfort und möglichst niedrigschwelliger Einstiegshürden steht der Anspruch nach verlässlicher Quellenprüfung: Laut Purkayastha beschäftigt sich ein Großteil des Personals mit der Verifikation der kuratierten Artikel mittels vier bis fünf weiterer Quellen, bevor eine Zusammenfassung veröffentlicht wird.

Name: Inshorts Medialabs Private limited
Sitz: 4th Floor, Plot No. 1, Film City (Sec-16A), Noida, Uttar Pradesh-201301, Indien
Website: inshorts.com
Gründung: 2013
Gründer: Azhar Iqubal (CEO), Deepit Purkayastha (Chief Strategy Officer), Anunay Pandey (Director)
Teamgröße: ca. 80
Follower/Abrufe:
Facebook > 1 Mio.
Instagram > 150k
Twitter > 70k
LinkedIn >52k
Website: 5 Mio. monthly active users
App-Downloads > 26 Mio. (Apple AppStore und Google Playstore)

(Stand: Mai 2020)

Kooperation als Schlüssel zum Erfolg

Der anhaltende Erfolg des mittlerweile als Grown-up operierenden Medienunternehmens fußt auch auf der funktionierenden Beziehung zu einer wachsenden Zahl an Medienpartnern, die einen Vorteil darin sehen, dass ihre Nachrichteninhalte in der populären App geteasert werden; denn Nutzer*innen werden – sofern sie mehr erfahren möchten – stets zum Originalbeitrag auf die Website des jeweiligen Medienpartners gelenkt. Die Mehrzahl der Kooperationspartner berechnet „Inshorts“, ähnlich eines Leistungsschutzrechts für Presseverleger, aber keine Gebühren. Nur einige der größeren Medienhäuser verlangen eine Minimum-Garantie an Weiterleitungen, die bislang aber nach Redaktionsangaben nicht unterschritten wurde.

Das Durchschnittsalter der indischen Bevölkerung liegt bei etwa 28 Jahren (zum Vergleich: die deutsche Bevölkerung ist im Schnitt Mitte 40). Der Markt für Millennial-Medien ist entsprechend groß. „Inshorts“ profitiert dabei von dem Bedürfnis nach einer kompakt aufbereitender Nachrichtenauswahl der besser situierten Teile der jungen Bevölkerung, die sich in immer stärkerem Maße unter beruflichem Leistungsdruck wähnt und zunehmend mobil lebt.

Auf die Idee zu einer simplen und direkten Nachrichten-App, die zu allen Interessensbereichen etwas zu bieten hat, dennoch klar strukturiert bleibt und bei Bedarf effizient Optionen zur Vertiefung bietet, kamen die drei Gründer Azhar Iqubal, Deepit Purkayastha und Anunay Pandey im Jahr 2013 – damals alle Anfang 20 – durch Wikipedia. Sie sahen in der Nachrichtenverdrossenheit ihrer Mitstudierenden an den Top-Unis des Landes eine Chance: Gelesen wurde in ihrer Alterskohorte viel, schließlich ging und geht es nach dem Schulabschluss um einen soliden Ausbildungsweg und große Karrieren. Für Nachrichten blieb für viele Altersgenossen keine Zeit. Die etablierten Medienorganisationen zeigten sich weitgehend unangepasst an die veränderte Mediennutzung der immer jünger werdenden Bevölkerung. Aktuelle Informationen zu kuratieren, und zwar nicht mit (unausgereiften) Automatisierungstechniken, sondern von (jungen) Menschen, erschien reizvoll. Sie legten im März 2013 noch während ihrer Studienzeit am Indian Institute of Technology (IIT) eine Facebook-Fanpage mit dem Namen „News in shorts“ an und sammelten innerhalb weniger Monate tausende Likes – es sollte zügig weitergehen.

Seine Sporen verdiente sich das Trio direkt nach dem Studienabschluss im Inkubator TLABS der „Times Internet“, ihr erster Investor. Sie hätten viel gelernt in dieser Zeit unter dem Dach der großen Zeitungsgruppe Bennett Coleman and Company Limited (BCCL), auch bekannt als „The Times Group“: von den Strukturen, Strategien, aber auch Nöten des Nachrichtengeschäfts in Zeiten tiefgreifenden medialen Wandels. Heute arbeitet ein 80-köpfiges Team für „Inshorts“, technische Prozesse kommen unterstützend zum Einsatz, sind aber prinzipiell zweitrangig. Insofern mutet die Redaktionskultur des jungen Medienhauses beinah konventionell an: Der Editor entscheidet, nicht der Computer, auch bei personalisierten Notifications, die für „Inshorts“ ein wichtiges Element der Nutzerbindung sind. Hier entscheiden Journalist*innen, für welche Zusammenfassung ein thematischer oder regionaler Hinweis an die Nutzer*innen Sinn macht.

Jung, mobil, unter Druck

Die Zielgruppe ist mit 20- bis 40-Jährigen auf Millennials und ältere Angehörige der Generation Z Millennials fokussiert. Nach Redaktionsangaben zeigt jedoch die Erfahrung, dass auch weitaus ältere Nutzer im Alter zwischen 40 und 60 Jahren App und Website in steigendem Maße nutzen. Für Jugendliche hingegen sei das Angebot weniger attraktiv. Deepit Purkayastha glaubt, dass Teenager mehr an kurzen Videoinhalten interessiert sind, weniger an Textbeiträgen. Genau weiß er es allerdings nicht: Schließlich positioniert sich das  Unternehmen demonstrativ gegen die Datensammelwut der Medienindustrie und gegen aufdringliche Abo-Angebote. „Wir bitten unsere Nutzer*innen nicht um persönliche Daten, die sie identifizieren könnten. Wir registrieren aber ihre Nutzungsmuster, ohne Schlüsse auf die Person ziehen zu können“, sagt der Chief Strategy Officer. Der einzige Hinweis auf die nutzende Person sei die Identifikationsnummer des jeweiligen Endgerätes. Unter jeder Zusammenfassung eines Beitrags gibt es in der App die Möglichkeit, Themeninteressen über eine Relevanzampel anzugeben: „All Stories“, „Major Stories“ oder „No Stories“. Hier seien die Nutzer*innen vor allem pragmatisch orientiert, sagt Purkayastha: Die meisten Nutzer sortieren aus und nutzen die rote Ausschlussfunktion, statt bestimmte Themeninteressen hervorzuheben. Das Team schließt daraus, dass die Mehrheit der Nutzer*innen genauer zu wissen meint, was sie nicht interessiert, als dass sich über ihre Interessen wirklich im Klaren sind.

„Wir sind ein Newsaggregator und keine Redaktion, die ihre Journalist*innen in alle Himmelsrichtungen aussendet. Deshalb war und ist es so wichtig für uns, die redaktionelle Seele am Leben zu halten“, sagt Deepit Purkayastha. Dadurch wolle man sich von anderen stärker technologiebasierten Mitbewerbern wie Toutiao (ByteDance, China) oder DailyHunt (India) unterscheiden: „Sie interessiert nicht der journalistische Kern ihres Angebotes, sondern sie basieren auf automatisierten Prozessen und sind deshalb anfällig für Fake News“, meint Purkayastha. Tatsächlich investieren die automatisierten Nachrichtenaggregatoren verstärkt darin, die Verbreitung von Falschnachrichten über ihre Plattformen zu unterbinden.

Journalistisches Sendungsbewusstsein als Triebkraft

So bedeutsam journalistische Expertise für die redaktionellen Abläufe von „Inshorts“ sind, brauchte das Unternehmen mehrere Jahre, um eine geradlinige Rekrutierungsstrategie zu entwickeln. Prägten in der Aufbauphase des Start-ups junge, aufstrebende, aber weithin unerfahrene Nachwuchskräfte das Team, das mit einem unklaren Fokus, einem zum Teil fehlenden Commitment und heterogenen persönlichen Ziele seiner Mitglieder haderte, konnten in der ersten längeren Wachstumsphase Journalismus- und weitere Medienstudierende für den weiteren Ausbau der Redaktion gewonnen werden. Mit stärkerer Marktpräsenz sind mittlerweile auch junge, aber bereits erfahrene und von anderen Nachrichtenanbietern abgeworbene Journalist*innen für „Inshorts“ tätig – ein Zeichen, dass der einstmalige Newcomer als etablierter Akteur und Arbeitgeber im journalistischen Feld anerkannt sein dürfte.

Die Redaktionsstruktur gliedert sich in eine übergreifend verantwortliche Group Editor für die beiden Apps „Inshorts“ und „Public“. Ihr untersteht jeweils ein Managing Editor für die beiden Angebote, jeweils assistiert von einem Chief Content Analyst mit Fokus auf Datenauswertungen, um die Technologie- und Produktentwicklung mit redaktioneller Perspektive zu verbinden. In der „Inshorts“-Redaktion gibt es für die verschiedenen Rubriken jeweils eine Ressortleitung, die sogenannten Senior Beat Heads. Etablierte Redakteure (Editors) kuratieren und betreuen die Benachrichtigungen (Notifications) für einzelne Beiträge. Jeder Neuzugang in der Redaktion durchläuft eine Phase als Junior Staff (Sub-editor) und schreibt Zusammenfassungen („Copies“) der kuratierten Artikel. Um hier einen qualitativen Standard zu sichern, wurden Richtlinien erlassen, wie Nachrichtenbeiträge in einem strikt faktischen Format ohne jegliche Meinungstonalität oder stilistischen Kapriolen zusammengefasst werden sollen. In Zukunft soll hier aber auch verstärkt Künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen und bei der Vorformulierung helfen.

Die wichtigste Distributionsplattform für das Unternehmen ist die „Inshorts“-App. Beworben wird die Marke aber vor allem über Facebook, wo „Inshorts“ über eine Million Nutzer*innen folgen. Auch Instagram werde hierfür immer wichtiger, sagt Deepit Purkayastha. Geteilt werden Inhalte aus der App hauptsächlich (zu etwa 70 Prozent) per WhatsApp, ein Potenzial, dass Chefstratege Purkayastha nicht ungenutzt lassen möchte: „Millennials wollen ihre Meinungen auf eine Art und Weise teilen, die einen Unterschied macht.“ Deshalb setze die Redaktion nun vermehrt auf die ergänzende Veröffentlichung von Umfragen, Quizzes und interaktive Inhalte. Audience Engagement im Sinne der Nutzerpartizipation sei einer der wichtigsten Entwicklungsbereiche für „Inshorts“. Gezielt entwickelt werden sollen zwei Pfade:

  1. Abweichend von der Regel soll es weiterhin keine ausgreifenden Kommentarbereiche in der App und auf der Website geben, da bei öffentlichen Nutzerkommentaren die Gefahr von Instrumentalisierung für Hassbotschaften, Trolling und andere Formen der Inzivilität bestehe. In Zukunft solle es die Möglichkeit privater Kommentare geben: Im Fokus stehen hier intime Kreise (Familienmitglieder, engste Freunde und Arbeitskolleg*innen) von nicht mehr als zehn bis 15 Personen, deren Meinung persönlich als besonders wichtig geschätzt wird und mit denen Nutzer*innen ihre Haltung und Werte teilen möchten, ohne Angriffe oder moralische Verurteilungen fürchten zu müssen. Dazu soll das Prinzip des geschützten Diskussionserlebens von WhatsApp in die App integriert werden, indem beispielsweise beim Teilen einer Zusammenfassung ähnliche oder zugehörige Beiträge zum Weiterlesen empfohlen werden.
  2. Darüber hinaus sollen vermehrt Influencer aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft pointiert mit Statements in der App erscheinen, um darüber das Publikum weiter zu aktivieren. Dies stehe nicht im Widerspruch zu dem selbst auferlegten Gebot der journalistischen Sachlichkeit und Neutralität: Deepit Purkayastha verspricht sich ein hohes Mobilisierungspotenzial unter den Nutzer*innen davon, Prominente einzuladen, sich mit ihren mehr oder weniger streitbaren Ansichten in der App als Meinungsmacher zu positionieren. Die Herausforderung liege in der Ausgewogenheit der redaktionellen Auswahl. Es sei freilich nicht das Ziel, Statements beispielsweise von nur einer Seite des politischen Spektrums zu bevorzugen.

Insgesamt aber tue sich das Unternehmen schwer damit, neue Features zu integrieren: „Wir sind dahingehend recht konservativ und eher zurückhaltend“, sagt Purkayastha. Er sehe „Inshorts” auch in weiter Zukunft nicht als sogenannte Super-App, die ähnlich wie „WeChat“ eine Vielzahl von Funktionen und Dienstleistungen integriert. „Dafür haben Nachrichtenorganisationen einen vergleichsweise schlechten Stand, weil die Größe der Nutzerbasis für bestimmte Dienstleistungen wie Bankgeschäfte viel weitreichendere Dimensionen hat.“ Deshalb seien Anbieter aus bestimmten Dienstleistungssektoren dahingehend viel besser aufgestellt.

Erlösstrategien und Expansionsprojekte

Erlöse erzielt “Inshorts” durch klassische Werbung, die sich möglichst nahtlos in das redaktionelle Angebot einfügt: verschiedene Formate wie Fact Cards, die wie die Zusammenfassung eines Artikels anmuten, vertikale Vollbild-Videos, kurze sogenannte Bumper-Videos bis hin zu in sich geschlossenen digitalen Magazinen innerhalb der App, die ein Produkt bewerben. Das Werbekonzept folgt dem Appeal von Native Advertising. Hier schöpft „Inshorts“ aus dem Vollen seiner Reichweiten auf dem indischen Medienmarkt. „Nachrichtenprodukte haben an sich kein starkes Wettbewerbsumfeld“, meint Deepit Purkayastha. Dennoch sehe er weiterhin eine der größten Herausforderungen auch für die eigenen Angebote darin, nachwachsende Generationen zur Nachrichtennutzung zu bewegen. Entscheidend dabei seien die Fähigkeiten und Ideen von Redaktionen, Formen der digitalen Kommunikation und Informationsvermittlung innovative weiterzuentwickeln und mit den aktuellen Möglichkeiten digitaler Medientechnologie zu verbinden. Bevorzugte Nachrichtenquellen würden nicht häufig gewechselt. Und die Markenloyalität sei selbst bei Millennials sehr hoch, wenn sie denn erst einmal etabliert sei.

Logo von publicWährend die „Inshorts“-App gerade in Großbritannien Fuß fasst, hat das Unternehmen mit “Public“ eine eigene hyperlokale Social-Media-Plattform für urbane Regionen in Indien gestartet, um die „nächste Hälfte der Bevölkerung, die nach und nach das Internet für sich entdeckt, zu erreichen“, sagt Strategieentwickler Purkayastha. Diese App lässt Nutzer*innen selbst Videos aus ihren lokalen Lebensumgebungen hochladen und wächst deutlich schneller als „Inshorts“ Nachrichtenaggregator. Schon liegen die Nutzerzahlen mehr als doppelt so hoch. „Public“ richtet sich an Lokaljournalist*innen, aber auch an Politiker*innen und reguläre Nutzer*innen. Kuratiert wird hier nicht, es gibt keine Redaktion, alles ist fließend. Um sich vor der Verbreitung von Fake News zu schützen, werden keine anonymen Nutzerkonten für den Upload von Videos zugelassen. Wer etwas veröffentlichen möchte, muss ein Verfahren zur Verifikation durchlaufen. Journalist*innen laden ihren Presseausweis zur Prüfung durch das Unternehmen hoch, Politiker*innen ihre entsprechende ID. Auch muss eine existierende Telefonnummer angegeben werden. Bislang stimmt die Entwicklung optimistisch: Es scheint sich ein weithin selbstregulierendes Netzwerk aus engagierten Nutzer*innen und Journalist*innen zu entwickeln, die per Peer-Review die Spreu vom Weizen trennen – ähnlich wie bei Wikipedia.

Mehr Trendreport vom VOCER Millennial Lab:

Beige – Das unisex Online-Magazin

Eine Kunstkolumne über Fäkalien auf Leinwand, eine Hymne auf das Lotterleben in Leggins, Mülltrennungsvergewisserung, Stadtflucht, Sternzeichenklischees, Lebensmittel retten, Produktvorstellungen und endlich nach Los Angeles: Thematisch mag „Beige“ mit Blick auf einschlägige Lifestyle-Blogs konventionell erscheinen. Die Themen ranken sich um Kultur, Menschen, Reisen, Design, Mode, Fair(e Produktion und Distribution), Pflege. Pflege im Sinne von Beauty, nicht gesellschaftskritisch im Sinne von Überalterung und Notstand. Doch das Online-Magazin hat sich in nur 18 Monaten mit Achtsamkeit, Affirmation und guter Laune ein treues Publikum in hoher sechsstelliger Zahl erarbeitet. Ihre Leser*innen beschreiben die beiden Modejournalistinnen Lisa Trautmann (33) und Marie-Christin Jaster (25) als „selbstkritisch, neugierig, hedonistisch (würden sie nie zugeben)“ und vor allem: „50 % weiblich, 50% männlich“.

Im Rahmen seines Trendreportings betreibt das VOCER Millennial Lab ein kontinuierliches weltweites Monitoring von innovativen Nachrichtenangeboten für junge Zielgruppen. Dabei stehen die Besonderheiten der oft als unbeständig wahrgenommenen digitalen Mediennutzung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Vordergrund: Welche konzeptionellen journalistischen Ansätze, welche Modi der Pubilkumsansprache, welche Darstellungsformen sind vor diesem Hintergrund erfolgsvorsprechend? Wie können junge Menschen für qualitativ hochwertige Berichterstattung begeistert werden? Die Reihe Millennial Medium des Monats stellt Best Practice-Beispiele aus dem In- und Ausland vor, die Antworten auf diese Frage liefern.

„Beige“ ist im September 2018 mit einem offensiv herausgekehrten „unisex“-Anspruch gestartet: Eine integrative Geschlechteransprache auf Augenhöhe sollten in der Berichterstattung ebenso selbstverständlich sein wie Diversität, so die Botschaft. Beiträge sollen Männer wie Frauen interessieren, meinen Jaster und Trautmann. Den nächsten Schritt des Feminismus versteht das Duo darin, die Männer nicht dabei zu vergessen, wenn es um relevante Themen und Fragestellungen geht: „Wir sind wir, Mensch ist Mensch“. So einvernehmlich, so überzeugend: Insbesondere junge Erwachsene sind wiederkehrende Besucher*innen der Website und ihrer lebendigen Dependance bei Instagram.

Das Kernpublikum von „Beige“ ist Mitte 20 bis Ende 40 und schätzt den selbstbewussten und stilbetonten Ansatz des Berliner Führungsduos. Die redaktionelle Linie wird strikt durch dessen persönliche Interessen bestimmt: Die 33-jährige Lisa Trautmann bewegen Potenziale von Empowerment und Diversity, die 25-jährige Marie-Christin Jaster brennt für Mode. Und immer wieder „Beige feels“: „Träumen von draußen“, „Zeit auch mal humble zu sein“, „Von Solidarität und Normalität“, „Keine Lust auf Massenhysterie“ und so fort. Ein Onlinemagazin so bunt wie der Name es kaum hätte vermuten lassen: grün, blau, orange schillert das Story-Grid auf der Website.

Der Name ist mehr Gegensatz denn Programm: Beige, die oft beschriebene „Seniorenfarbe“, unauffällig, nichtssagend, bestenfalls vornehm konnotiert, aber alles andere als frisch, überraschend. „Beige interessiert noch nicht mal Insekten!“, witzelte Trautmann einmal in einem Interview. Dieser Mut zur Ironie scheint sich zu lohnen: Als noch junges journalistisches Startup ohne langfristig entwickelte Fanbasis verzeichnet „Beige“ bereits über 80.000 monatliche Websitebesucher und 7.800 Follower bei Instagram, die sich mit nur einem veröffentlichten Beitrag pro Tag begnügen. Die Artikel setzen auf Zeitlosigkeit statt auf Aktualität. Sich auf der Website verlieren zu können, ohne sich gestrig zu fühlen, ist ein Alleinstellungsmerkmal, das Beige gern kultiviert: Herumscrollen, die Gif-verzierten Headlines durchstöbern, auf Geschichten stoßen, die trotz ihres Erscheinungsdatums Monate zurück immer noch aktuell erscheinen: „Bend it like Beckham“ im „Digitalen Zuhause“, wie Lisa Trautmann das Magazin versteht – ein digitalziniges „Coffeetable Book“ für Millennials.

Name: Beige
Sitz: Schönhauser Allee 128, 10437 Berlin
Website: beige.de
Gründung: Mai 2018
Gründerinnen: Lisa Trautmann und Marie-Christin Jaster
Teamgröße: 11
Veröffentlichte Beiträge seit Gründung: > 500
Follower (monatlich):
Facebook > 600
Instagram > 7.800
Pinterest > 51.000

(Stand: April 2020)

Millennials, da ist sich Lisa Trautmann ganz sicher, sind mittlerweile in einem Alter, dass sie mehr als nur Inhalte-Snacks verdauen wollen. Die Schlagzahl verringern, Hintergründe und Kontexte vertiefen: Das Interesse, ein Thema möglichst umfassend zu verstehen, sei groß. Schließlich wird das Leben mit der Zeit nicht unkomplizierter. Vermittelt werden solle: „Es gibt alles, jeder darf alles.“ Die Darstellungsform in Text und Bild, nur selten Video, ist fließend und plattformübergreifend, aber nicht beliebig. Marie-Christin Jaster vermisst bei Modestrecken in einschlägigen Publikumszeitschriften und ihren Online-Derivaten Zusatzinformationen, Hintergründe, Bestell- und Vergleichsmöglichkeiten. Selbiges gelte für den Reisejournalismus, meint Trautmann. Diesen Mehrwert im Nutzwert versucht Beige nachzuholen, bis hin zu funktionalen Features wie die Einbindung von Google Maps-Ausschnitten, Restaurantbewertungen, Insta-Stories, um „auf dem Handy immer alles gleich parat zu haben“. Vorbilder für diesen „Alles was geht“-Anspruch kennen die Beiden nicht. Man könne dem Leser nicht genug Service bieten, und der Versuch werde honoriert.

Formate für beiderlei Geschlechter

Nutzwert leitet Jaster und Trautmann auch bei den Kooperationen mit Werbetreibenden, derer sie drei als Meilensteine ihres Millennial-Mediums herausstellen: Da war der „Bumble-Brunch“, eine gemeinsam mit der namensgebenden Dating-App organisierte Offline-Veranstaltung, bei der gematchte Nutzer*innen beim gemeinsamen Frühstück über Freundschaft, Zusammenhalt und „die besten Tricks gegen Einsamkeit“ diskutieren konnten. Journalistisch-aktivierende Veranstaltungen seien sowohl fürs Image der eigenen Medienmarke und die Nutzerbindung gut, sind die Gründerinnen überzeugt. Eine Lücke erkennen Trautmann und Jaster in Formaten, die für beiderlei Geschlechter interessant sind. Zu häufig werde hier auf vermeintlich spezifische Interessen von Frauen oder Männer zugespitzt und zugeschnitten. Es fehlten Veranstaltungsreihen, die konkret themenbezogen zwischen den Geschlechtern vermitteln, ohne diesen Verständigungsprozess explizit in den Vordergrund zu stellen. Doch durch die Corona-Pandemie mussten erste Überlegungen, diesen Zweig weiter zu entwickeln, bereits im Keim auf die lange Bank geschoben: „Zu zweit ist es schon schwer, ein Magazin und eine Agentur zu leiten. Dann noch krasse Offline-Konzepte auf die Beine zu stellen, ist in der aktuellen Situation einfach nicht möglich. Es gibt aber Ideen, das in absehbarer Zukunft anzugehen“, sagt Marie-Christin Jaster.

Ein Spezial mit sieben Home-Stories bei diversen Berliner*innen war prägend für das junge Onlinemagazin, bei der das Make-Up-Label Catrice als Sponsor nicht nur im Hintergrund präsent war. Die Aktion blieb auch deshalb angenehm in Erinnerung, weil sich die Redaktion mit ihrem eigenen Konzept gegen die anfängliche Dominanz des Werbepartners durchsetzen konnte. „Geld auf dem Konto, Artikel-Schandflecke auf der Seite: das wollen wir nicht“, so Lisa Trautmann. Zugeständnisse von Werbepartnern an die Kreativität des „Beige“-Teams ist für die Unternehmerinnen entscheidend. „Wir arbeiten nur mit Brands, hinter denen wir auch zu 100 Prozent stehen“, sagt Marie Jaster. Viel Nutzerfeedback habe es auch zu ihrem Interview mit Friseur Joshua Coombes gegeben, der Obdachlosen kostenlos die Haare schneidet. Der Beitrag war eine bezahlte Kooperation mit einer Schuhmarke, als dessen Werbebotschafter der Mann im Fokus seine Lebenseinstellung erklären durfte.

Rückmeldungen ihrer Nutzer*innen erreichen das Führungsduo kaum noch wie anfangs über die Kommentarfunktion auf der Website, sondern überwiegend via Instagram-Kommentaren. Je persönlicher die Kritik, desto eher werden Direktnachrichten geschickt: zur Rechtfertigung von Fleischkonsum zum Beispiel. Am ausführlichsten sei das Feedback, das sie per traditionellem Leserbrief per E-Mail erreiche, sagt Lisa Trautmann. Hier sei auch zu beobachten: Je älter die Nutzer*innen im recht jungen Altersspektrum der Zielgruppe seien, desto kommunikativer, überlegter und differenzierter die Zuschriften. Auf Facebook ist „Beige“ zwar auch vertreten, ihre Performance dort ähnele aber einem „Trauerspiel“, der Lohn der redaktionell investierten Mühe sei „zum Heulen“. Eine Verwertung auf LinkedIn und YouTube werden noch entwickelt. Instagram bleibt allerdings vorerst konkurrenzlos. Lisa Trautmann wünscht sich zwar einen Freelancer jenseits der 50, schließlich gebe es aus dieser Altersgruppe zunehmendes Interesse an den Inhalten von „Beige“. Neugieriger noch ist sie allerdings auf die Einstellung von Teenagern zum Leben und das beige Themenspektrum. Sie selbst verstünde Vieles in der heutigen Social-Media-Welt kaum noch – TikTok zum Beispiel.

Für alle Lebenskonzepte offene Zielgruppe

Von ihren derzeitigen Durchschnittsnutzer*innen glauben Marie Jaster und Lisa Trautmann mittlerweile ein relativ konkretes Bild zu haben: Diese gäben gerne Geld für Kleidung und Prestige-Objekte aus, seien allen Lebenskonzepten gegenüber aufgeschlossen und offen eingestellt, informierten sich größtenteils online, seien jedoch mit Print aufgewachsen und vertraut, seien zudem viel unterwegs, sehr mobil und würden ihre Informationen informativ und humorvoll verpackt mögen, pflegten einen „normalen“ Arbeitsalltag und schwankten oft zwischen ihren Träumen und angestrebten Lebenskonzepten, wüssten oftmals selbst noch nicht genau, wohin ihre Reise gehe und würden gar denken, dass die Welt ein ziemlich verrückter und spannender Ort ist. So steht es in ihrem Media Kit für Werbetreibende: eine unter dem Eindruck des Userfeedbacks entwickelte Erwartungserwartung zweier aufstrebender Journalismus-Unternehmerinnen.

Als großes geschäftliches Vorhaben für 2020 ist auf Anzeigenkunden zugeschnittene Bannerwerbung mit eigener Programmierung und Graphik geplant. Doch von den unruhigen Turbulenzen und Ambivalenzen der Corona-Krise ist auch „Beige“ erfasst worden: „Natürlich ist es gerade für alle eine schwere Zeit, ganze Existenzen brechen ein. Wir versuchen die positiven Dinge zu sehen: Mehr Menschen haben Zeit digital zu lesen, unsere Zugriffszahlen haben sich mehr als verdoppelt, der Austausch mit den Leser*innen ist viel intensiver geworden. Der Zusammenhalt ist so stark wie noch nie“, sagt Marie-Christin Jaster. Vor der Pandemie habe es kaum einen Unterschied gemacht, wenn die Veröffentlichungsfrequenz hin und wieder etwas erhöht wurde, so Jaster. Seien durchschnittliche Nutzer*innen bislang für gewöhnlich einmal am Tag zur Website navigiert, markiere die Corona-Krise einen grundsätzlichen Wandel: „Gerade merken wir das Gegenteil: Leser wünschen sich mehr Content und mittlerweile produzieren wir an den meisten Tagen zwei Artikel am Tag, in der ersten Zeit der Quarantäne sogar sieben Tage die Woche zwei Artikel. Unsere Zugriffszahlen haben sich in den letzten zwei Monaten mehr als verdoppelt.“

Solidarität in Zeiten von Corona

Im Laufe des Frühjahrs verdoppelten sich die Seitenaufrufe auf 100.000 monatlich, die Zahl der Website-Besucher von 30.000 auf 80.000. „Wir versuchen die Corona-Krise als Chance zu nehmen, noch mehr anspruchsvollen Content an mehr Menschen zu vermitteln. Wir wollen noch mehr als sonst Unterhaltung mit Mehrwert kreieren, persönlicher werden und ablenken sowie aufklären. Beides schließt sich für uns nämlich nicht aus“, sagt Jaster. Das Dilemma eines wachsenden Publikumsinteresses in der Krise und gleichzeitig ausbleibender Werbeaufträge versucht das Team konstruktiv für sich zu wenden: Die Redaktion verschenkt unter dem Motto #BeigeSupportPackage Advertorials an Unternehmen aus den Bereichen Kunst, Kultur und Lifestyle. Die Firmen werden gezielt ausgesucht, nachdem sie sich über den Instagram-Account von „Beige“ beworben haben. Bei den Lesern kommt der transparente Umgang mit der Solidarität für die lokale Wirtschaft offenbar an: Die Beiträge werden geklickt, das Publikumsfeedback ist ausgesprochen positiv. Kriterien für die Auswahl eines Unternehmens seien neben seiner Betroffenheit von der Krise die Nachhaltigkeit der Geschäftsziele, die Größe und die Philosophie der Firma. Bis Ende April wurden 18 Labels auf der Website und 40 Labels im redaktionellen Newsletter vorgestellt. Die Gradwanderung geht auch finanziell auf: Kürzlich wurde eine große Getränkemarke auf die Aktion aufmerksam und stieg als Sponsor ein.

Mehr Trendreport vom VOCER Millennial Lab:

Screenshot von NAS Daily

NAS Daily – „People first. Products second.“

„Mehr Content produzieren. In noch mehr Sprachen. Zu einem sehr viel größeren Medienunternehmen wachsen. Mehr als 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen.“ Die Pläne von Nuseir Yassin für sein Startup NAS Daily sind ambitioniert. Im Frühjahr 2019 ist er von Kalifornien nach Singapur umgezogen, um aus seinem privaten Projekt ein Unternehmen zu gründen. Mit seinen kompakten Videos erreicht der 28-Jährige aus dem nordisraelischen Arraba bei Facebook regelmäßig 15 Millionen Abonnenten. Überzogene Spieldauern seien eine „Todesstrafe“ für jedes Online-Video, das sehe er schon an seinem eigenen Nutzungsverhalten, sagt Yassin im Interview. Seine Clips sind agil und dynamisch gedreht, schnell geschnitten und inhaltlich zugespitzt auf eine Frage, ein Talent oder ein Phänomen: „The World in 60 Seconds“ – die Welt in einer Minute. Das Motto ist Programm: Bis heute hat Yassin annähernd 1.100 Videos produziert. Im Fokus: Die Menschen, Kulturen und Naturen der Welt.

Im Rahmen seines Trendreportings betreibt das VOCER Millennial Lab ein kontinuierliches weltweites Monitoring von innovativen Nachrichtenangeboten für junge Zielgruppen. Dabei stehen die Besonderheiten der oft als unbeständig wahrgenommenen digitalen Mediennutzung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Vordergrund: Welche konzeptionellen journalistischen Ansätze, welche Modi der Pubilkumsansprache, welche Darstellungsformen sind vor diesem Hintergrund erfolgsvorsprechend? Wie können junge Menschen für qualitativ hochwertige Berichterstattung begeistert werden? Die Reihe Millennial Medium des Monats stellt Best Practice-Beispiele aus dem In- und Ausland vor, die Antworten auf diese Frage liefern.

Das kommt an: NAS Daily ist eine der wenigen Erfolgsgeschichten im globalen Geschäft mit Social Video, bei der ein einzelner Protagonist quasi im Alleingang eine Medienmarke aufgebaut hat, die sich mit Berichterstattung aus aller Welt an ein junges Publikum in aller Welt richtet. NAS Daily startete zunächst als Nebenprodukt eines auf 60 Tage angelegten Reiseexperiments: Nuseir Yassin buchte im April 2016 einen One-Way-Flug nach Nairobi, die Hauptstadt Kenias, um das „Abenteuer seines Lebens“ zu beginnen. Er jettete auf alle Kontinente, besuchte die Osterinseln, Chile, die Philippinen, Zimbabwe, Island, die türkisch-syrische Grenze, Nordkorea, Armenien, den Kölner Dom. In Berlin fragte er sich gemeinsam mit seiner mitreisenden Familie, weshalb das Leben hier so erschwinglich sei. Aus 60 Tagen wurden 260. Aus 260 Tagen wurde ein ganzes Jahr. Und aus einem Jahr wurden zwei. Jeden Tag entstand ein Video, eine Minute lang. Das disziplinierte Durchhaltevermögen zahlte sich aus: Immer mehr vor allem junge Menschen entdeckten die Beiträge über Yassins ganze eigene Entdeckung der Welt, ihrer Menschen, ihrer kulturellen Besonderheiten – und ihres Miteinanders.

Viele Videos strotzen vor Begeisterung angesichts von Naturspektakeln, kreativer Leistungen scheinbar gewöhnlicher Menschen und kulturellem Humanismus, der Zuversicht stiften soll in Zeiten von Konflikt und Superkapitalismus. Doch es gibt auch zahlreiche Videos über lokale und globale Ungleichheit und die Torturen des Alltags in vielen Ecken der Welt. Die Kamera fliegt (mittels Quadcopter), schwingt (mittels Selfiestick und GoPro) oder ruht vor Nuseir Yassins Gesicht und dem eingängigen Ladebalkenmotiv auf seinem T-Shirt: „33% Life“ – ein Markenzeichen mit Botschaft: „Time is valuable“, konstatiert Yassin in Video Nummer 545 aus Mumbai, Indien. Er habe schon immer Schwierigkeiten gehabt, Entscheidungen zu treffen. Außerdem habe er früher viel zu viel Geld für Dinge ausgegeben, die er im Grunde nicht gebraucht habe. Deshalb wolle er seine Zeit besser nutzen. Das T-Shirt avancierte für ihn programmatisch zum Ausdruck seiner Konzentration auf das Wesentliche, zu einem Zeit- und Seelenretter, denn Konsumkritik und ein konsequenter Fokus auf emotionale und spirituelle Erfüllung durch die Begegnung mit Menschen liegen bei dieser One-Man-Show nah beieinander.

Menschen. Leben. Werte.

„Nas“ heißt im Arabischen „Leute“: Menschen in ihrer Verschiedenheit und ihren Gemeinsamkeiten stehen bei NAS Daily im Mittelpunkt. Erzählt wird von Flüchtlingen, von Armen und Reichen, von jungen und alten Leuten, von Schicksalsverfolgten, von Begabten und Idealisten. Das Format richtet sich in seiner Verve an 18- bis 35-Jährige, auch wenn Nuseir Yassin auf Nachfrage beteuert, seine Videos sollten eigentlich „alterslos“ sein. Allerdings wird die Zielgruppe durch Yassins Blick auf die Welt, seinen Erzählstil und seine Art, sich vor der Kamera zu inszenieren, definiert: Seine Popularität verdankt Yassin seinem autodidaktisch entwickelten Storytelling. Seit dem ersten Video lässt er sein Publikum an den Reisen und seinen Fragen an die Welt teilhaben. Unterm Strich, meint er, gründe sich sein Erfolg allein auf die Geschichten, die er erzähle: „just the story“. Die wichtigste Voraussetzung sei, Menschen dazu zu bringen, seinen Geschichten etwas abzugewinnen, Widerhall zu finden in den Interessen und Lebenswirklichkeiten seines globalen Publikums.

Für ihn sei es beim Reisen niemals um geplante Ziele, sondern immer um die Freude daran gegangen, nicht zu wissen, was ihm über den Weg laufen werde, schreibt Nuseir Yassin in seinem Buch „Around the World in 60 Seconds“ – quasi dem bebilderten Logbuch zu seinem Aufstieg zum Medienphänomen. Seine eigene Startup-Story lädt er damit philosophisch auf und bietet damit auch einige Inspiration für Medienschaffende: Der Weg ist das Ziel, das Unbekannte der ultimative Antrieb. Für ihn zähle die Offenheit, die improvisierte und unerforschte Unvorhersehbarkeit seiner Reise. Dabei transportieren die kurzen Filme weit mehr als Eindrücke von persönlichen Begegnungen mit unbekannten Menschen und Regionen: Mit merklich zunehmender Akribie recherchiert Yassin im Laufe seines Projekts Themen und Persönlichkeiten und verarbeitet sie in Form von kompakten Presenter-Reportagen, die geschickt seine persönliche Perspektive, kulturelle Besonderheiten oder auch latente Konfliktlinien aufgreifen.

Name: NAS Daily
Sitz: 100 Jalan Sultan, #02-28, Sultan Plaza, Singapur (199001)
Website: nasdaily.com
Gründung: 1. Februar 2019
Gründer und CEO: Nuseir Yassin
Chief Marketing Officer: Alyne Tamir
Teamgröße: 19
Videoproduktionen: ca. 1.100
Follower:
Facebook >15 Mio.
Instagram >1,5 Mio.
YouTube >0,7 Mio.
Daily Views: >7,7 Mio.

(Stand: März 2020)

Das Storytelling setzt auf die Authentizität eines aufgeschlossenen, aber häufig auch unsicheren Weltbürgers, der selbst hin und wieder mit eigenen Vorurteilen – aber auch mit denen anderer – hadern muss, und dabei doch nie seine Begeisterung für die Welt und das Leben verliert. Das ist ansteckend, offenbar besonders für junge Menschen, macht visuell neugierig, überzeugt in der Auseinandersetzung mit großen Fragen des menschlichen Zusammenlebens, vermittelt Wissen und regt zum Austausch an, auch mit Andersdenkenden.

Yassin ist durch und durch Twen mit Sendungsbewusstsein. Er möchte weder Vlogger noch Influencer sein. Seine selbstgewählte Rolle ist die des CEO, dabei arbeitet er journalistisch, möchte berichten, sein Publikum aufklären – ohne Skript, aber fundiert recherchiert und persönlich verifiziert. Der Enthusiasmus eines überzeugten Travelguide mag ihm verziehen werden, auch er macht die Videos so anschlussfähig bei Millennials.

Experiment. Fail. Learn. Repeat.

„Ich bin nicht als Storyteller geboren worden, ich musste es durch beständiges Wiederholen lernen. Ich habe 1.000 Videos gedreht und erst dadurch gelernt, wie ich eine gute Geschichte erzähle“, sagt Yassin im Interview. Die Nutzungsdaten zeugten davon, ob er besser oder schlechter performt habe: „Wenn ich an einem Tag einen Fehler gemacht habe, habe ich es am nächsten Tag besser gemacht. Iteration macht alles besser.“

Die Geschichte von Nuseir Yassin erscheint wie aus einem Märchenbuch für Selfmade-Entrepreneure: Sich selbst entwirft er gern als von Neugierde Getriebener, als Pionier, dessen Energie und Entdeckerlust ihn zuerst nach Ohio und später an die Harvard University bugsierte. Er spricht von Talenthunger. Er jagte seine Träume. Sein Werdegang passt ins Bild: Als er sich als Schulabsolvent auf gutes Zureden einer US-amerikanischen Austauschlehrerin aus Ohio und gut Glück an der Welten entfernt scheinenden Elite-Uni Harvard in Cambridge, Massachusetts für den Bachelor-Studiengang in Economics and Computer Science bewarb, habe er es sich nicht träumen lassen, nicht nur angenommen zu werden, geschweige denn ein Vollstipendium zu erhalten, das ihm die Studiengebühren in Höhe von ca. 60.000 US-Dollar im Jahr ersparte. Während der langen Ostküstensommer versuchte er sich mit diversen Geschäftsideen, sammelte Startup-Erfahrungen in New York, hielt durch, obwohl all seine Anläufe misslangen, sei es eine Plattform für den Austausch von Nettigkeiten („Kindify“), eine integrative Suchmaschine für mehrere Social-Media-Plattformen („Branchly“), ein Nachrichtenaggregator für 1-Minuten-News („Downtime“), ein Klamottenvermietung für Globetrotter („Oyster“) oder eine Empfehlungsmaschine für Restaurant-Hintergrundmusik („Delphi“).

Nach seiner Absolvia im Jahr 2014 winkte das Zahlungsabwicklungs-Grownup Venmo mit einem mit 120.000 US-Dollar Jahresgehalt ordentlich dotierten Vertrag als Backendentwickler und entspannter Arbeitskultur im West Village Manhattans. Rückblickend beschreibt Yassin seine Zeit als Angestellter als wunderbar und insinuiert zugleich sein Kernproblem: „Komfort ist das erste Zeichen, dass die Dinge nicht okay sind.“ Die Routine habe ihn eingeengt, ja ärgerlich gemacht, weil er nicht die nächsten wertvollen Jahrzehnte seines Lebens nicht als Investition für einen späteren Payout verstanden wissen wollte. Seine restlichen Zwanziger, Dreißiger, Vierziger vor einem Computerbildschirm verbringen? Das sind Karriereaussichten, die gegenwärtig in der Lebensphase nach dem Studium wohl vielen jungen karrierehungrigen Menschen dräut. Yassin meint rückblickend, er habe womöglich verrückt gehandelt: Er ging mit seinem ersparten Kapital aus 20-monaten Tätigkeit für ein aufstrebendes Tech-Unternehmen auf volles Risiko, entledigte sich unnötiger Dinglichkeiten und traf mit dem vielleicht unfreiwilligen Gründer-Mantra „Alles ist ein Prozess“ den Nerv seiner Generation. Also los: Raus in die Welt, für ein Leben in vollen Zügen.

Bei NAS Daily wird mittlerweile in klareren Strukturen experimentiert: Die NAS Company in Kampong Glam, dem muslimischen Viertel Singapurs, zählt 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Tendenz wachsend. Journalistische Expertise ist hier kein Einstellungskriterium, sondern vielmehr Talent in der Videoproduktion. Auf absehbare Zeit wird sich das Unternehmen auf die Alleinstellungsmerkmale und die publizistische Motivation seines Gründers verlassen müssen, der mit seinem Videoabbinder „That‘s one Minute – see you tomorrow“ eine Zauberformel fand, die Retention Rate bei seinem jungen Publikum anzukurbeln. Jeden Tag ein Video, das war der selbstauferlegte Takt für 1.000 Videos. In Tasmanien, Tag 748, fiel die Entscheidung, sich nach der tausendsten Produktion schwerpunktmäßig der Firmengründung zu widmen. Videos kommen seitdem im wöchentlichen Takt. Und sie dürfen auch länger dauern als 60 Sekunden.

Das ursprüngliche Motiv aber gilt weiterhin: „Bisher haben Medienhäuser den Aufmerksamkeitsmarkt dominiert. Das hat sich mit den sozialen Medien radikal verändert. Wenn wir in dieser Arena nicht die Aufmerksamkeit der Menschen gewinnen, scheitern wir. Also konzentrieren wir uns darauf, was aus unserer Sicht wichtig ist. Ich zeige in meinen Videos, was ich für relevant erachte: Segregation, Rassismus, den Konflikt zwischen Israel und Palästina, aber auch auf welche Weise Länder und Menschen Gutes tun, Menschen mit Erfindergeist, kluge, beeindruckende und inspirierende Menschen“, sagt Nuseir Yassin im Interview. Leitend seien humanistische Werte, die Menschen verbinden: „Jedes andere Video wäre Zeitverschwendung.“

Global. Konstruktiv. Diversifiziert.

Nuseir Yassin hatte bislang keine Schwierigkeiten, ausreichend Themen aufzuspüren, die zeigen, dass sich weltweit auch unter widrigen Vorzeichen Gutes bewährt und durchsetzen kann. Lösungsorientierung ist ein Leitmotiv des Videoformats und gleichzeitig eine Antwort auf die größte Herausforderung von NAS Daily: ein globales Publikum mit universellen Themen anzusprechen, die möglichst auf der ganzen Welt verstanden und als relevant eingestuft werden. Dabei spielen auch universelle Ängste eine Rolle – eines der aktuell am meisten gesehenen und kommentierten Videos trägt den Titel: „How Singapore fights Coronavirus“ – über 23 Millionen Aufrufe, etwa 15.000 Kommentare. Darin versucht Nuseir Yassin am Beispiel seines aktuellen Wohnsitzes zu erklären, wie die Ausbreitung der Epidemie bekämpft wird und die Eltern (und Großeltern) der Zuschauer sich nicht sorgen müssten.

Nuseir Yassin kann auch Bücher, mit NAS Daily setzt er aber auf kompakte Videos über Menschen aus aller Welt.

„Wenn ich ein Produzent in Deutschland wäre, würde ich nur Themen angehen, die in Deutschland für wichtig gehalten werden. Der Durchschnitts-Filipino würde sich dafür aber nicht interessieren. Deshalb lege ich, wenn ich ein Video drehe, immer als Maßstab an, dass ein Zuschauer aus Honduras, aus Israel, aus Deutschland oder von irgendwo auf der Welt einen lebensweltlichen Bezug dazu haben kann.“ NAS Daily setzt auf konstruktive Berichterstattung über Menschen, die aus ihrer jeweiligen Situation heraus neue Denkansätze entwickeln, Probleme bewältigen, mit kreativen Ideen und Talenten ihren Träumen nachgehen oder mit eisernem Willen durchhalten. Dies verfolge er in deutlicher Abgrenzung zu einem Großteil der Nachrichtenanbieter, die aus seiner Sicht in erster Linie versuchen würden, die Welt mit Berichten über alles Schlechte in der Welt zu verbessern, sagt Nuseir Yassin. Das Negativitätsbias sei verantwortlich dafür, dass „wir nun alle glauben, die Welt sei tatsächlich schlecht. Deshalb fragte ich mich: Können wir die Welt besser machen, indem wir darüber berichten, was es Gutes in der Welt gibt? Während Nachrichtenanbieter die Pflicht haben, über einen Terroranschlag zu berichten, möchte ich mich auf alternative Nachrichten konzentrieren: Dinge, die Aufmerksamkeit verdienen, aber nicht so aufregend oder sensationell sind wie Krisenereignisse.“ Länder, Menschen, Emotionen bis hin zu Beziehungsfragen („Sollten wir Kinder haben?“) sind aktivierende Themenfokusse, die sich auch geschäftlich auszahlen: Bis zu einer Million Dollar Umsatz im Monat könne mit Facebook Ads erwirtschaftet werden, sagt Yassin. Hinzu kämen Erlöse aus Auftragsproduktionen für Facebook, das mit mehr als 2,4 Milliarden Nutzerinnen und Nutzern weltweit immer mehr Content benötige.

Die Abhängigkeit von der Distributionsplattform Facebook diktiere aber auch die Demographie der Zielgruppe: Zurzeit seien es Millennials, die NAS Daily hauptsächlich nutzen, doch das könne sich perspektivisch ändern, je nachdem wer die Plattform in Zukunft hauptsächlich bevölkere. Der entscheidende Vorteil von Facebook bleibe die globale Nutzerschaft (mit Ausnahme von China), die Sharing-Möglichkeiten, die einem Video bis zu zehn Millionen Views an einem Tag einbringen könnten, und die lebendigen Nutzerdiskussionen: „Conversations drive video.“ Noch moderiert und kommentiert Nuseir Yassin auch selbst. Der Facebook-Kosmos bleibe wohl für die nächste Dekade der Dreh- und Angelpunkt für Social Video, auch weil er die in der Nutzergunst rasant wachsende Plattform TikTok nicht für kompatibel mit westlichen Werten hält: „Wenn nicht Facebook, dann wird es die Instagram-App sein, wenn nicht Instagram, dann WhatsApp.“

Dennoch agiert der frische Gründer vorsichtig und versucht zu diversifizieren: „Ich bin ganz und gar nicht überzeugt davon, dass NAS Daily auf lange Sicht Erfolg haben wird. In den sozialen Medien bist du drei Jahre populär, und dann ist es plötzlich vorbei. Und wenn Facebook seinen Algorithmus ändert, bist du weg vom Fenster. Aus diesem Grund habe ich ein Unternehmen aufgebaut, damit es mir hilft, weitere Erlösquellen abseits von Facebook aufzutun.“ Zu den Kunden der jungen Produktionsfirma gehören unter anderem Uber, Pfizer, Agoda, Turkish Airlines, eine Hochschule und eine Krankenhauskette, die bei NAS Imagevideos und andere Werbefilme in Auftrag geben. In Singapur hat Yassin nach monatelangen Überlegungen einen Ort gefunden, der ihm ideal erscheint für seine Wachstumspläne: „Ich möchte an einem Ort leben, der funktioniert, nicht an einem Ort mit Problemen. Ich brauche keinen Verkehrskollaps wie in Los Angeles, ich kann mir keine hohen Steuern leisten, weil sie deine Firma in den Ruin treiben können. Ich möchte eine Regierung, die funktioniert, und ich möchte Arbeitskraft für meine Firma unkompliziert importieren können. Das ist in vielen Ländern nicht ohne weiteres möglich. Nicht zu vergessen brauche ich in der Nähe einen Flughafen, der rund um die Uhr geöffnet ist. Und ich möchte inmitten meiner Nutzerinnen und Nutzer arbeiten – die weltgrößte Population lebt in Asien, nicht in Europa, nicht in Nordamerika“, sagt Yassin im Interview.

NAS Daily soll sich nach dem Willen seines Gründers perspektivisch zumindest tendenziell von der Person Nuseir Yassin lösen. Die wachsenden Aufgaben sollen verteilt, das Gesicht des Unternehmens diverser werden. Im Vordergrund – neben den kreativen Köpfen – steht die Entwicklung neuer (Video-)Produkte für diverse Märkte. Gegründet wurde zu diesem Zweck auch eine eigene Academy: ein einmonatiges Hospitanzprogramm am Firmensitz in Singapur mit Fokus auf Storytelling, Umgang mit Kameras und Videobearbeitung. Die Unternehmensperspektive bleibt global, die Inhalte konstruktiv, doch die (An-)Sprache und die Themen werden regionaler: für Vietnam, die Philippinen, Thailand gibt es schon Kanäle mit sechs bis siebenstelligen Abonnentenzahlen. Ausgaben für die Arabisch und Spanisch sprechende Welt wachsen. Mittlerweile zeigen Yassins T-Shirts den Ladebalken bei 36% – noch ist Zeit.

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