The Doe – Honest. Verified. Anonymous.

„Civil discourse is broken. We’re here to change that“ – Mit der Aussage, dass der gesellschaftliche Diskurs kaputt sei und sie das ändern möchten, hat der Gründer von „The Doe“ den Grundstein gelegt. Milan Kordestani hat sein Projekt mit zwei unterschiedlichen Zielen gestartet: Zum einen möchte er die Denkweise der Menschen herausfordern und zum anderen gibt es jeden Monat Geschichten aus verifizierten, anonymen Quellen – von Menschen, die eine Geschichte zu erzählen haben.

Im Rahmen seines Trendreportings betreibt das VOCER Millennial Lab ein kontinuierliches weltweites Monitoring von innovativen Nachrichtenangeboten für junge Zielgruppen. Die Reihe Millennial Medium des Monats stellt Best Practice-Beispiele aus dem In- und Ausland vor.

Der Artikel „We Had 48 Hours: How Teachers Transformed the Education System Over a Weekend“, der den Grundgedanken von „The Doe“ besonders anschaulich erklärt, handelt von einer Lehrerin, die nach Verkündung des Lockdowns 48 Stunden Zeit hatte, um ein digitales Pendant zum bisherigen Unterricht zu entwickeln – am Freitag kam die Ansage, die Lehrer*innen sollen den Inhalt der jeweiligen Schulstunden für den digitalen Unterricht vorbereiten und am Montag wurde bereits online unterrichtet. Und während sie zu Beginn tatsächlich die Konzepte, die sie für den Schultag vorbereitet hatte, lediglich auf den Online-Unterricht übertrug, merkte sie schnell, dass das nicht funktioniert. Sie schreibt, von außen würde es vielleicht so aussehen, als hätten sie nur ein Problem zu lösen gehabt – wie man online unterrichtet.

Dabei ging es vielmehr darum, wie man auf Schüler*innen eingeht, die beispielsweise spezielle pädagogische Betreuung im Unterricht benötigen. Oder wie man mit Schüler*innen umgeht, die psychische Probleme haben. Umgekehrt ging es auch darum, wie Lehrer*innen mit gesundheitlichen Problemen oder Kindern mit der Situation umgehen können.

Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, auch die zu Wort kommen zu lassen, die zwar keine eigene Plattform haben, jedoch relevante Einblicke gewähren können, um Situationen besser zu verstehen.

In dem Artikel „I’m a Ballerina and I Use Alcohol as a Coping Mechanism“ erzählt etwa eine Ballerina von ihrem Traumberuf, allerdings auch von der Besessenheit davon, immer besser zu werden und ihrem daraus resultierenden Alkoholproblem, das sie nach vielen Jahren des Tanzens als Erwachsene entwickelte. Sie bricht mit dem von außen vermeintlich perfektem Bild der Ballerina. Ebenso spricht in „What It Was Like Being a Stripper“ eine ehemalige Stripperin von den Anfängen ihrer Karriere und davon, wie sie am Ende einer neunstündigen Schicht ohne nennenswertes Einkommen zuhause ankommt.

Die Idee für „The Doe“ entstand aus einem persönlichen Bedürfnis heraus

Es sind solche Geschichten, die Blicke hinter die Kulissen gewähren und persönliche, echte Meinungen enthalten. „Wir leben in einer interessanten Zeit. Denn abgesehen davon, dass es eine Vielzahl an Medien gibt, herrscht gleichzeitig wenig Vertrauen in die Medien. Die Menschen sind müde davon, immer die gleichen Geschichten zu hören und haben gleichzeitig das Gefühl, dass ihre eigene Stimme nicht gehört wird.“, erklärt Gründer Milan Kordestani.

The Doe - Logo

Name: The Doe
Sitz: kein Office, die Redaktion arbeitet hauptsächlich von Colorado und Kalifornien aus
Website: thedoe.com
Gründung: Launch war am 1. Juni 2020
Gründer: Milan Kordestani
Teamgröße: 3
Follower/Abrufe:
Instagram > 195k
Twitter > 50k
Facebook > 1,7k

(Stand: August 2020)

Der 19-Jährige Kordestani hat bereits als Teenager für die „Huffington Post“ geschrieben. Eine Leidenschaft für das Schreiben hatte er laut eigener Aussage schon immer, doch erst als er etwas veröffentlichen konnte, hatte er das Gefühl, dass er etwas zu sagen und dies wiederum auch Gewicht habe. Als die Redaktion geschlossen wurde, verlor er nicht nur eine für ihn als Autor relevante Plattform, sondern hat ohnehin eine Zeitlang nicht geschrieben. Nach dieser Pause verfasste er nach eigenen Angaben eher Erzählungen und Kommentare anstatt journalistischer Artikel. Viele von ihnen waren sehr persönlich, andere wiederum provozierend – aus beiden Gründen wollte er sie anonym veröffentlichen. „Als ich kein Medium finden konnte, wo das möglich war, war ich zwar enttäuscht, aber auch begeistert von der Möglichkeit, das selbst aufzubauen.“, sagt Milan Kordestani.

Es kann von Vorteil sein kann, anonym zu veröffentlichen

Wie realistisch ist es, vollkommen unvoreingenommen eine Geschichte zu hören? Durch die eigene Sozialisation stecken wir Menschen in Schubladen oder verurteilen sie. Milan Kordestani stellt die Fragen, die man sich selbst wohl bei einer neuen Begegnung stellen würde – sei es bewusst oder unbewusst: „Ist unser Gegenüber liberal oder konservativ? Arm oder wohlhabend? Zählt die Meinung gleich viel, auch wenn sie oder er nicht aufs College gegangen sind? Ist es wichtig, ob das College nicht zur Elite gehört?“ Für ihn entsteht durch diese Fragen ein Bruch im gesellschaftlichen Diskurs. Durch Social Media wurde es zwar möglich, weltweit mit Menschen zu kommunizieren, dabei ist man allerdings niemals losgelöst von den eigenen Vorurteilen. Wir sehen Menschen und bewerten sie – bei „The Doe“ wird unter Pseudonym geschrieben und nicht kenntlich gemacht, wie alt die schreibende Person zum Beispiel ist oder woher sie kommt.

Die Idee des anonymen Veröffentlichens mag kein grundlegend neuer Ansatz sein, entspricht historisch gesehen jedoch nicht der Motivation von vielen amerikanischen Unternehmen, vor allem nicht der von Medienunternehmen. Für Milan Kordestani setzen die meisten Fernsehsender, Magazine und Websites hauptsächlich auf Ruhm, Gesichter und Persönlichkeiten, um ihre Medien zu pushen. Deshalb wollte er mit „The Doe“ diese Lücke schließen und hat die gegenteilige Haltung angenommen. Der offizielle Launch der Website war am 1. Juni 2020, das Angebot erreicht laut eigener Angabe (Stand: Juli 2020) aktuell etwa 16.000 Menschen, die Leser*innen gehören hauptsächlich zu den Millennials und sind zu 70 Prozent zwischen 18 und 34 Jahre alt.

Trotz Anonymität gibt es immer einen gemeinsamen Nenner

Da alle Geschichten anonym veröffentlicht werden, werden sie durch einen monatlichen Themenfokus auf einen gemeinsamen Nenner gebracht beziehungsweise eingeordnet. Es gibt unterschiedliche Themenbereiche wie Umwelt, Mental Health und Liebe, die als eine Art Grundgerüst für die Plattform fungieren. Gleichzeitig gibt es jeden Monat ein Überthema, das den Rahmen für die Auswahl der Inhalte schafft. Für die nächsten Monate sind beispielsweise Bildung, Gerechtigkeit, Politik, Popkultur oder Wissenschaft und Tech geplant. Insgesamt garantiert die Redaktion pro Monat elf Geschichten, es werden allerdings eher zwischen 30 und 40 Stück werden, meint Milan Kordestani. Zu Beginn musste die Redaktion auf potenzielle Autor*innen zugehen und sie gezielt suchen, das hat sich inzwischen geändert: Pro Monat erhält die Redaktion etwa 50 oder 60 Pitches.

In Zeiten von Fake News und Self Publishing hat es sich die Redaktion nicht nur zur Aufgabe gemacht, Geschichten zu veröffentlichen, sondern vor allem zu verifizieren. Nachdem sie eine gute Story erhalten haben und diese teilen möchten, beginnen sie zu recherchieren. Sie sprechen nicht nur persönlich mit der Person, sondern lassen sich Gegebenheiten beispielsweise durch Dokumente bestätigen und recherchieren auch zur Person selbst. Ist die Geschichte geprüft, beginnen die Redakteur*innen mit der schreibenden Person am Text zu arbeiten oder interviewen sie, um im klassischen Fragen-Antwort-Stil zu erzählen.

Andere Geschichten werden genau umgekehrt produziert. Zunächst ist das die Idee und es wird nach Menschen gesucht, die darüber sprechen möchten. Auch hier wird alles überprüft und verifiziert.

Anonyme Einblicke in die redaktionelle Arbeit gewährt die Redaktion mit einem Instagram-Post, in dem Autor*innen oder Geschichtenerzähler*innen als Testimonials ihre Erfahrung mit der Zusammenarbeit mit „The Doe“ teilen. So schreibt „Countrycitygirl“, „The Doe“ wäre zweifelsohne die beste Publikation, mit der man arbeiten könne. „Logophile“ sagt, dass es großartig sei, für The Doe zu schreiben. Er oder sie liebt die Möglichkeit, so offen über persönliche und kontroverse Erfahrungen zu schreiben, ohne Angst vor starken Gegenreaktionen haben zu müssen.

Obwohl sich alle Schreibenden und Erzählenden ohnehin schon bewusst mit dem Thema und natürlich ihrer persönlichen Geschichte auseinandersetzen, sollen sie es auch immer möglichst kontrovers und nochmal aus mehreren Blickwinkeln betrachten. Dadurch hat sich eine sehr erfolgreiche Publikationsstrategie ergeben: Das Veröffentlichen von zwei Narrativen mit komplett gegensätzlichen Meinungen zum selben Thema. Zusätzlich dazu werden die Leser*innen nach ihrer Meinung gefragt und zur Diskussion gebeten.

„The Doe“ setzt auf zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Monetarisierung

Für den Gründer war von Anfang an klar, dass auf „The Doe“ keine Werbung geschalten wird, da es nicht nur den Lesefluss unterbrechen würde, sondern auch nicht sehr authentisch wäre. Stattdessen wird auf zwei Möglichkeiten der Monetarisierung gesetzt:

  1. Zum einen das „Pay what you want“-Abonnement. Der Gedanke dahinter war, dass jede*r durch unterschiedliche sozioökonomische Hintergründe beeinflusst wird und dennoch alle den Zugang zu den Stories haben sollen. Deshalb bezahlen die Leser*innen so viel wie sie können. Das kann ein Dollar oder können hundert Dollar im Monat sein, alle können nach ihren eigenen Möglichkeiten etwas dazugeben.
  2. Zum anderen gibt es Merchandise, was für Medien eine eher unübliche Einnahmequelle ist. „Wir haben eine Modekollektion entworfen, die unsere Mission unterstützt. Jedes Kleidungsstück ist an eines unserer monatlichen Themen geknüpft. Man hat damit also nicht nur ein modernes Piece in guter Qualität, sondern erzählt auch eine Geschichte und kann dadurch eine Konversation starten.“, erklärt der Kordestani.

„The Doe“ verdienst allerdings nicht nur Geld, sondern spendet seit Kurzem auch. So werden jeden Monat entsprechend des Themas vier Organisationen ausgesucht, die das Projekt finanziell unterstützt. Die Leser*innen können darüber abstimmen, wem wieviel Geld gespendet wird. Die meist gewählte Organisation erhält 800 US-Dollar, die anderen gestaffelt 600, 400 und 200 US-Dollar.

Für Milan Kordestani ist Innovation das Wichtigste

Die Medienwelt hat sich verändert. Unter dem von der Digitalisierung geprägten Umstieg von gedruckten Zeitungen und traditionellen Medien haben viele gelitten. Die großen Publikationen waren gezwungen, Paywalls zu errichten, um Geld zu verdienen. Andere wiederum mussten schließen. Für den Gründer ist die Lösung simpel: Jede*r ist gezwungen, innovativ zu bleiben, um sich zu bestehen.

Sein Ziel mit „The Doe“ ist es, dass die Stories länger als 20 Sekunden gesehen beziehungsweise gelesen werden und im Gedächtnis bleiben. Die Leute sollen miteinander sprechen und Gemeinsamkeiten finden, es soll ein generationsübergreifender Dialog geschaffen werden. „The Doe“ entwickelt sich ständig weiter und möchte die Grenzen des klassischen Journalismus überschreiten. „Alles, was wir als Unternehmen tun, ist daran gekoppelt, den gesellschaftlichen Diskurs weiterzuentwickeln.“, sagt Milan Kordestani.

„The Doe“ traut sich, anders zu sein und anders zu veröffentlichen

Obwohl das junge Medium noch nicht lange online ist, verzeichnet es ein enormes Wachstum, was beim Blick auf die Follower in Social-Media-Netzwerken wie Instagram deutlich wird. Innerhalb weniger Wochen ist die Zahl um ein Dreifaches gewachsen und auf der Homepage selbst wurden immer mehr Artikel veröffentlicht.

Zwar sind Meinungen und Anonymität generell auf den ersten Blick nicht immer fundiert oder glaubwürdig, dennoch spielt beides in einer gesellschaftlichen Diskussion eine wichtige Rolle. Und „The Doe“ schafft eine Symbiose aus beidem. Sie veröffentlichen gut recherchierte Artikel zu Themen, zu denen wohl alle Leser*innen etwas zu sagen haben – allerdings werden genau diese Denkweisen durch die persönlichen Erfahrungen und Meinungen der Autor*innen hinterfragt und teilweise auch widerlegt. Wer weiß schon wirklich, wie es hinter den Kulissen der Schule aussah, wie schnell alles gehen musste oder worauf man beim Online-Unterricht achten muss? Erst durch den Artikel, in dem die 48 Stunden und die Anfänge des digitalen Schulalltags geschildert wurden, bekommt man ein Gefühl dafür.

Anmerkung: Wir hätten dieses Porträt gerne in ausgewählten Aspekten vertieft. Leider war Milan Kordestani nicht dazu bereit, weitergehende Fragen zu beantworten.

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